Diagnostik und Therapie der Alkoholabhängigkeit (ICD-10: F10.2)

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 Präsentation transkript:

Diagnostik und Therapie der Alkoholabhängigkeit (ICD-10: F10.2) Vorlesung, Seminar, UaK (G2, G3) Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Diagnostik und Therapie der Alkoholabhängigkeit (ICD-10: F10.2) Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Zentrum für Psychosoziale Medizin Universitätskrankenhaus Hamburg-Eppendorf (UKE)

Vorlesung, Seminar, UaK (G2, G3) Erstellung des Inhalts: Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Erstellung des Inhalts: Prof. Dr. Martin Lambert  Lehrbeauftragter Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Zentrum Psychosoziale Medizin Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) Martinistr. 52, 20246 Hamburg Gebäude W37 Tel.: +49-40-7410-24041 Fax: +49-40-7410-52229 E-Mail: lambert@uke.de

Überblick Übersicht zum Krankheitsbild Grundlagen Therapie Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Übersicht zum Krankheitsbild Grundlagen Epidemiologie Diagnostik: u.a. Symptomatik, Komorbidität, Risikofaktoren Diagnostische Kriterien nach Leitlinien nach ICD-10 Ätiologie / Pathogenese Therapie Prävention / Früherkennung Pharmakotherapie Psychosoziale Therapie Verlauf und Prognose

Übersicht zum Krankheitsbild Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Übersicht zum Krankheitsbild

1-Jahres-Prävalenz Alkoholabhängigkeit in Europa (2005 / 2011) 2005 1-Jahres-Prävalenz von 2.4% 2011 1-Jahres-Prävalenz von 3.4% Wittchen et al. European Neuropsychopharmacology (2011) 21, 655–679

Betroffene mit Alkoholabhängigkeit in Europa (2005 / 2011) 2005: 7.2 Millionen Betroffene 2011: 14.6 Millionen Betroffene Wittchen et al. European Neuropsychopharmacology (2011) 21, 655–679

Erkrankungen mit den meisten Lebensjahren mit Behinderung in Europa 2011 2011 rangierte die bipolare Störung unter allen psychischen und neurologischen Erkrankungen auf Platz 3! Wittchen et al. European Neuropsychopharmacology (2011) 21, 655–679

Übersicht zum Krankheitsbild Krankheitsaspekt Wissen Lebenszeitprävalenz 13–26% Punktprävalenz 2,4% Prävalenzraten für alkohol bezogene Störungen 1,6 Mio. Menschen (2,4%) mit aktueller Alkoholabhängigkeit 3,2 Mio. Menschen (4,9%) mit remittierter Alkoholabhängigkeit 2,7 Mio. Menschen (4%) mit schädlichem Alkoholgebrauch und 3,2 Mio. Menschen (4,9%) mit riskantem Alkoholkonsum Pro-Kopf-Konsum 9,6 Liter reinen Alkohol/Jahr (in Deutschland) Geschlechterverhältnis 2,5/1 (m/w) Erkrankungsalter Höchster Anteil in der Gruppe der 17- bis 22-Jährigen (30–35%) Wichtige Komorbiditäten Tabakabhängigkeit (70–90%), Angststörungen, affektive Störungen, Persönlichkeitsstörungen Erblicher Faktor 40–60% (Familien- und Zwillingsstudien) Leitlinien AWMF: Leitlinien der DG-Sucht und DGPPN Quellenangaben: Voderholzer, U., Hohagen, F. Therapie psychischer Erkrankungen. Elsevier, 2013; Frauenknecht, S., Lieb, K. Last minute Psychiatrie. Elsevier, 2011

Grundlagen: Epidemiologie Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Grundlagen: Epidemiologie

Epidemiologie (I) Ca. 10% der Bevölkerung trinken 50% des Alkohols Für mehr als 10 Mio. Menschen in Deutschland wird ein Behandlungs- oder zumindest ein Beratungsbedarf zu alkoholbezogenen Störungen veranschlagt Die überwiegende Mehrheit wird in Allgemeinkrankenhäusern (30– 35%) und in den Praxen niedergelassener Ärzte (70–80%) behandelt Der Verlauf der Abhängigkeit sowie körperliche Alkoholfolgen entwickeln sich offensichtlich geschlechtsspezifisch unterschiedlich schnell (Teleskop-Effekt), wobei Frauen eine erhöhte Vulnerabilität aufweisen Die direkten (ca. 10 Mio. Euro) und indirekten (ca. 16,66 Mio. Euro) volkwirtschaftlichen Kosten des Alkoholkonsums belaufen sich auf 26,7 Mio Euro Quellenangaben: Voderholzer, U., Hohagen, F. Therapie psychischer Erkrankungen. Elsevier, 2013

Epidemiologie (II) Mit steigendem Pro-Kopf-Alkoholkonsum steigen auch alkoholassoziierte körperliche Folgeerkrankungen, Alkoholmissbrauch, Alkoholabhängigkeit und die allgemeine Mortalität Folgen der Alkoholabhängigkeit: Akute gesundheitliche Störungen (Intoxikation, Alkoholentzugssyndrom, Delir, Krampfanfall, etc.) Chronisch degenerative Alkoholfolgekrankheiten (äthyltoxische Leberzirrhose, Polyneuropathie, Hirnatrophie etc.) Quellenangaben: Voderholzer, U., Hohagen, F. Therapie psychischer Erkrankungen. Elsevier, 2013

Diagnostik: u.a. Symptomatik, Komorbidität, Risikofaktoren Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Grundlagen: Diagnostik: u.a. Symptomatik, Komorbidität, Risikofaktoren

Alkohol-assoziierte Störungen nach ICD-10 (F10) - Überblick Name F10.0 Akute Intoxikation F10.1 Schädlicher Gebrauch F10.2 Abhängigkeitssyndrom F10.3 Entzugssyndrom F10.4 Entzugssyndrom mit Delir F10.5 Psychotische Störung F10.6 Amnestisches Syndrom F10.7 Restzustand und verzögert auftretende psychotische Störung F10.8 Sonstige psychische und Verhaltensstörungen F10.9 Nicht näher bezeichnete psychische und Verhaltensstörung Quellenangaben: Weltgesundheitsorganisation (WHO): ICD-10. Hans Huber, 2010

Akute Alkoholintoxikation: Subtypen ICD-10 F10.0 Subtypen F10.00 ohne Komplikationen F10.01 mit Verletzungen oder anderen körperlichen Schäden F10.02 mit anderen medizinischen Komplikationen F10.03 mit Delir F10.04 mit Wahrnehmungsstörungen F10.05 mit Koma F10.06 mit Krampfanfällen F10.07 pathologischer Rausch Quellenangaben: Weltgesundheitsorganisation (WHO): ICD-10. Hans Huber, 2010

Akute Alkoholintoxikation: diagnostische Kriterien 1. Nachweis des kürzlich erfolgten Konsums in einer ausreichend hohen Dosis 2. Symptome oder Anzeichen für eine Intoxikation vereinbar mit den bekannten Wirkungen von Alkohol 3. Die Symptome sind nicht erklärbar durch einen anderen Substanzgebrauch 4. Funktionsgestörtes Verhalten, deutlich an mindestens einem der folgenden Merkmale: Enthemmung, Streitlust, Aggressivität, Affektlabilität, Aufmerksamkeitsstörung, Einschränkung der Urteilsfähigkeit, Beeinträchtigung der persönlichen Leistungsfähigkeit 5. Mindestens eins der folgenden Anzeichen: Gangunsicherheit, Standunsicherheit, verwaschene Sprache, Nystagmus, Bewusstseinsminderung, Gesichtsröte, konjunktivale Injektion Quellenangaben: Weltgesundheitsorganisation (WHO): ICD-10. Hans Huber, 2010

Alkoholintoxikation mit Delir: Beschreibung und Symptome Delirium tremens (Alkoholdelir) Beschreibung Auftreten i.d.R. nach Alkoholverzicht oder bei fortgesetztem Konsum (Kontinuitätsdelir) Dauer i.d.R. 5-7 Tage In ca. 20% der Fälle wird ein Delir durch epileptische Anfälle eingeleitet Unbehandelt liegt die Letalität bei bis zu 15%, bei optimaler Behandlung unter 2% Schwere Folgeschäden sind das Amnestisches Syndrom und die Wernicke Enzephalopathie Leitsymptome Bewusstseinsstörungen, Desorientiertheit, Angst Weitere Symptome Optische Halluzinationen (z.B. herumhuschende kleine Tiere) Erhöhte Suggestibilität (Pat. lesen z.B. von einem leeren Blatt ab) Ausgeprägte Hypermotorik mit Nesteln und Herumsuchen Vegetative Symptome mit Fieber, Schwitzen, Hypertonie, Tachykardie, Tremor und Schlafstörungen Quellenangaben: Frauenknecht, S., Lieb, K. Last minute Psychiatrie. Elsevier, 2011

Alkoholintoxikation: diagnostische Kriterien pathologischer Rausch Diagnostische Kriterien und Details 1. Die allgemeine Kriterien für eine Alkoholintoxikation sind erfüllt 2. Verbale Aggressivität oder körperliche Gewalttätigkeit, die für die Person im nüchternen Zustand untypisch sind 3. Auftreten sehr bald (meist innerhalb weniger Minuten) nach Alkoholkonsum 4. Kein Hinweis auf eine organische zerebrale oder eine andere psychische Störung 5. Details: Auslösung des Rauschzustands auch schon durch kleine Alkoholmengen Oft nur von kurzer Dauer Komplette Amnesie für den Rauschzustand Persönlichkeitsfremde Verhaltensmuster, d. h. für den Betroffenen untypisches, aggressives oder gewalttätiges Verhalten Quellenangaben: Weltgesundheitsorganisation (WHO): ICD-10. Hans Huber, 2010

Schädlicher Gebrauch: Definition und diagnostische Kriterien Ein Konsummuster das zu einer Gesundheitsschädigung führt Diese kann eine körperliche Störung oder eine psychische Störung, z.B. eine depressive Episode nach massivem Alkoholkonsum sein Diagnostische Kriterien 1. Deutlicher Nachweis, dass der Alkoholgebrauch verantwortlich ist 2. Die Art der Schädigung sollte klar festgestellt und bezeichnet werden können 3. Das Gebrauchsmuster besteht mindestens seit einem Monat oder wiederholt in den letzten 12 Monaten 4. Auf die Störung treffen Kriterien einer anderen Störung durch Alkohol (außer F10.0, Intoxikation) nicht zu Quellenangaben: Weltgesundheitsorganisation (WHO): ICD-10. Hans Huber, 2010

Schädlicher Gebrauch: Details Die Diagnose erfordert eine tatsächliche Schädigung (psychisch oder physisch); negative soziale Folgen fallen per se nicht unter den Begriff „Schädigung“ Eine akute Intoxikation oder ein „Kater“ beweisen allein noch nicht den „Gesundheitsschaden” Schädlicher Gebrauch ist bei einem Abhängigkeitssyndrom, einer psychotischen Störung oder bei anderen spezifischen alkohol- oder substanzbedingten Störungen nicht zu diagnostizieren Quellenangaben: Weltgesundheitsorganisation (WHO): ICD-10. Hans Huber, 2010

Alkohol-Abhängigkeitssyndrom: Definition Der Konsum des Alkohols hat für die betroffene Person Vorrang gegenüber anderen Verhaltens-weisen, die von ihr früher höher bewertet wurden Entscheidendes Charakteristikum: starker, gelegentlich übermächtiger Wunsch, Alkohol zu konsumieren Quellenangaben: Weltgesundheitsorganisation (WHO): ICD-10. Hans Huber, 2010

Alkohol-Abhängigkeitssyndrom: diagnostische Kriterien Überbegriffe Diagnostische Kriterien 3 von 6 der Kriterien müssen in den letzten 12 Monaten gleichzeitig vorhanden gewesen sein 1. Starkes Verlangen Ein starker Wunsch oder eine Art Zwang, Alkohol zu konsumieren 2. Kontrollverlust Verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich des Beginns, der Beendigung und der Menge des Konsums 3. Entzugssymptome Ein körperliches Entzugssyndrom bei Beendigung oder Reduktion des Konsums 4. Toleranzentwicklung Nachweis einer Toleranz, d.h., um die ursprünglich durch niedrige Dosen erreichte Wirkung hervorzurufen, sind zunehmend höhere Dosen erforderlich 5. Einengung Fortschreitende Vernachlässigung anderer Vergnügen oder Interessen zugunsten des Alkoholkonsums oder erhöhter Zeitaufwand, um diese zu beschaffen oder sich von den Folgen zu erholen 6. Fortgesetzter Konsum Anhaltender Alkoholkonsum trotz des Nachweises eindeutiger schädlicher Folgen Quellenangaben: Weltgesundheitsorganisation (WHO): ICD-10. Hans Huber, 2010

Entzugssyndrom: Definition und allgemeine diagnostische Kriterien Gruppe von Symptomen nach absolutem oder relativen Entzug von Alkohol Das Entzugssyndrom kann durch symptomatische Krampfanfälle kompliziert werden Allgemeine diagnostische Kriterien 1. Nachweis des Absetzens oder Reduzierens von Alkohol, nach wiederholtem Konsum, der meist lang anhaltend und / oder in hohen Mengen erfolgte 2. Symptome und Anzeichen, die den bekannten Merkmalen eines Entzugssyndroms von Alkohol entsprechen 3. Die Symptome und Anzeichen sind nicht durch eine vom Alkoholgebrauch unabhängige körperliche Krankheit zu erklären Quellenangaben: Weltgesundheitsorganisation (WHO): ICD-10. Hans Huber, 2010

spezifische diagnostische Kriterien Entzugssyndrom: spezifische diagnostische Kriterien Spezifische diagnostische Kriterien 1. Die allgemeinen diagnostischen Kriterien sind erfüllt 2. a. Mindestens eins der folgenden Merkmale b. Mindestens zwei der folgenden Anzeichen a. Euphorie und Gefühl von gesteigerter Energie Tachykardie b. Erhöhte Vigilanz Kardiale Arryhthmie c. Grandiose Überzeugungen oder Aktivität Hypertonie d. Beleidigendes Verhalten oder Aggressivität Schweißausbrüche e. Streitlust Übelkeit und Erbrechen f. Affektlabilität Gewichtsverlust g. Repetitives, stereotypes Verhalten Pupillenerweiterung h. Optische, akustische oder taktile Illusionen Psychomotorische Unruhe i. Halluzinationen, gewöhnlich bei erhaltener Orientierung Muskelschwäche j. Paranoide Vorstellungen Schmerzen in der Brust k. Beeinträchtige persönliche Leistungsfähigkeit Krampfanfälle Quellenangaben: Weltgesundheitsorganisation (WHO): ICD-10. Hans Huber, 2010

Entzugssyndrom: Details Setzen Alkoholabhängige den Konsum ab, entwickelt sich i.d.R. ein vegetatives Alkoholentzugssyndrom (Dauer meist 3-7 Tage) Ursache ist die kortikale Überstimulation aufgrund des Wegfalls inhibitorischer Aktivität (Alkohol wirkt GABAerg und damit dämpfend auf das ZNS) Entzugssyndrom mit Delir (F10.04): Zustandsbild, bei dem das Entzugssyndrom durch ein Delir kompliziert wird. Symptomatische Krampfanfälle können ebenfalls auftreten. Quellenangaben: Weltgesundheitsorganisation (WHO): ICD-10. Hans Huber, 2010

Psychotische Störung: Definition und diagnostische Kriterien Psychotische Phänomene, die während oder nach Alkoholgebrauch auftreten, aber nicht durch die akute Intoxikation erklärt werden können. Die Störung ist durch Halluzinationen, Wahrnehmungsstörungen, Wahnideen, psychomotorische Störungen und abnorme Affekte gekennzeichnet Hierzu gehören z.B. die Alkoholhalluzinose oder alkoholischer Eifersuchtswahn Diagnostische Kriterien 1. Beginn während Alkoholgebrauch oder innerhalb von 2 Wochen nach Absetzen 2. Dauer der psychotischen Symptome länger als 48h 3. Dauer der Störung nicht länger als 6 Monate Quellenangaben: Weltgesundheitsorganisation (WHO): ICD-10. Hans Huber, 2010

Amnestisches Syndrom: Definition und diagnostische Kriterien Ein Syndrom mit einer ausgeprägten andauernden Beeinträchtigung des Kurz- und Langzeitgedächtnisses. Das Immediatgedächtnis gewöhnlich erhalten. Das Kurzzeitgedächtnis ist stärker gestört als das Langzeitgedächtnis. Hinzu kommen Störungen des Zeitgefühls und Zeitgitterstörungen, Desorientierung, Beeinträchtigung der Fähigkeit, neues Lernmaterial zu behalten. Konfabulationen sind ausgeprägt. Rückbildung bei Abstinenz möglich, aber häufig chronischer Verlauf Diagnostische Kriterien 1. Gedächtnisstörungen in den Bereichen Kurz- und Langzeitgedächtnis 2. Fehlen der Störung des Immediatgedächtnis sowie Fehlen von Bewusstseinsstörung und Aufmerksamkeitsstörung 3. Kein Vorliegen einer objektivierbaren Gehirnerkrankung Quellenangaben: Weltgesundheitsorganisation (WHO): ICD-10. Hans Huber, 2010

Wernicke-Enzephalopathie: Beschreibung und Symptomatik Schwerste Alkoholfolgeerkrankung aufgrund eines Vitamin-B1-Mangels infolge von Mangelernährung Auftreten bei 10% aller chronisch Alkoholabhängigen Neuro-pathologische Auffälligkeiten Spongiöser Gewebszerfall v.a. im Bereich um den Aquädukt und im Höhlengrau des III. und IV. Ventrikels Verkleinerte und rostbraun verfärbte Corpora mamillaria Symptomtrias Bewusstseins- und Orientierungsstörungen (66% der Fälle) Blickmotorikstörungen wie Nystagmus oder bilaterale Abduzensparese (40% der Fälle) Zerebelläre Ataxie (51% der Fälle) Therapie Hoch dosierte Vitamin-B1 (Thiamin) Gabe und stationäre Aufnahme Quellenangaben: Frauenknecht, S., Lieb, K. Last minute Psychiatrie. Elsevier, 2011

Psychiatrische Komorbidität Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Depressive Störungen: bis 80% Angststörungen: bis 70% Antisoziale Persönlichkeitsstörungen: bis 50% Borderline-Persönlichkeitsstörungen: bis 25% Schizophrene Psychosen: bis 10 % Quellenangaben: Voderholzer, U., Hohagen, F. Therapie psychischer Erkrankungen. Elsevier, 2013

Ätiologie / Pathogenese Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Grundlagen: Ätiologie / Pathogenese

Ätiologie / Pathogenese: Überblick Genetik Zwillingsstudien erreichen eine Konkordanz von 60% Mehrere Genorte sind beteiligt – einzelne Chromosomen jedoch nicht identifiziert (siehe folgend) Biochemie Beeinflussung verschiedener Neurotransmittersysteme (siehe folgend) Kulturelle Faktoren Islamisch geprägte Ethnien vs. Bayerische „Bierkultur“ Soziologische Faktoren Langzeitarbeitslosigkeit - Entwurzelung – Vertreibung – Migration Bestimmte Berufsgruppen ( Ärzte – Apotheker) Psychologische Ansätze Lernpsychologie - Konditionierung: Inadäquate, letztlich selbst- schädigende Bewältigungsstrategie („Coping“) Tiefenpsychologie - Psychoanalytische Neurosentheorie: Missglückter Versuch der Bewältigung eines Konflikts zwischen den Instanzen Über-Ich (Ansprüche der Gesellschaft) und Ich (Überforderung) Quellenangaben: Frauenknecht, S., Lieb, K. Last minute Psychiatrie. Elsevier, 2011

Ätiologie / Pathogenese: Genetik Bestimmte Varianten der Alkoholdehydrogenase und des CYP2E1 führen zu einem beschleunigten Alkoholabbau und damit zu einer verminderten Empfindlichkeit für toxischen Effekte. Personen mit einer geringen Reaktionen auf eine Ethanolintoxikation weisen eine besondere Gefährdung für exzessiven Alkoholkonsum und die Entwicklung einer Alkoholabhängigkeit auf. Eine dopaminerg und GABAerg vermittelte neuronale Bahnung trägt maßgeblich zu den verschiedenen Stimulationseffekten geringer Ethanoldosen bei, was eine Fortsetzung des Alkoholkonsums begünstigt Bei höheren Dosierungen von Ethanol tritt der antagonistische Effekt am NMDA-Glutamat Rezeptor in den Vordergrund (z.B. Bewusstseinstrübungen und kognitive Einbußen) Untersuchungen an Primaten zeigen, dass eine gering ausgeprägte Reaktion auf Alkohol im Zusammenhang mit einer serotonergen Dysfunktion steht Quellenangaben: Voderholzer, U., Hohagen, F. Therapie psychischer Erkrankungen. Elsevier, 2013

Ätiologie / Pathogenese: Neurobiologie Dopamin Alkohol erhöht die Dopaminkonzentration = Einfluss auf das Hirnbelohnungssystem = Verbesserung der Stimmung, positive Verstärkung erhöht das Abhängigkeitsrisiko Serotonin- und die Noradrenalin Alkohol reduziert die Serotonin- und die Noradrenalin- Ausschüttung = kann dadurch Aggressivität und Depression begünstigen Endorphin und Enkephalin Alkohol erhöht die Endorphin und Enkephalin-Ausschüttung = Euphorie begünstigt die Sucht GABA Alkohol erhöht die GABA Funktion, Bindungsstelle wie Benzodiazepinen und Barbituraten = Sedierung, motorische Beeinträchtigungen Glutamat Alkohol vermindert die Glutamat-Rezeptorfunktion => kognitive Beeinträchtigung, Reduktion der Gedächtnisfunktion Quellenangaben: Frauenknecht, S., Lieb, K. Last minute Psychiatrie. Elsevier, 2011

Ätiologie / Pathogenese: Toleranz und Entzug Stimulatorische Wirkung von Alkohol an GABAA-Rezeptoren führt zur verminderten Ansprechbarkeit der Rezeptoren (Entwicklung einer Toleranz) Inhibitorische und sedierende Effekte des Ethanols werden über glutamaterge Blockade der N-Methyl-D-Aspartat (NMDA)-Rezeptoren vermittelt. Eine chronische NMDA-Rezeptorblockade durch Ethanol führt zu einem gegenregulatorischen Anstieg der NMDA-Rezeptorendichte und -aktivität. Wird chronischer Alkoholkonsum unterbrochen, wird die Blockade der vermehrt aktivierten NMDA-Rezeptoren beendet und die GABAerge Stimulation der vermindert ansprechbaren Rezeptoren aufgehoben. Die resultierende kortikale Überstimulation kann Entzugskrampfanfälle verursachen. Die überhöhte glutamaterge Wirkung kann zu vegetativer Dysfunktion und damit je nach Schwere zum sofortigen Trinkrückfall führen. Quellenangaben: Voderholzer, U., Hohagen, F. Therapie psychischer Erkrankungen. Elsevier, 2013

Ätiologie / Pathogenese: Belohnungssystem und Rückfall Da das durch einen konditionierten Stimulus ausgelöste Suchtverlangen meist nur wenige physische Entzugssymptome verursacht, ist anzunehmen, dass sich Suchtverlangen durch die Unterbrechung eines Regelkreises entwickelt, wobei das mesolimbische dopaminerge Belohnungssystem ein Bestandteil dieses Regelkreises sein könnte. Die reizabhängige Freisetzung von Dopamin unterliegt einem Sensibilisierungsprozess, so dass eine wiederholte Konfrontation mit einem drogenassoziierten Reiz zu einer Verstärkung der Verhaltensreaktion führt. Diese Untersuchungen sind von Bedeutung für das Modell eines „Suchtgedächtnisses“ und die Ausrichtung therapeutischer Konzepte. Quellenangaben: Voderholzer, U., Hohagen, F. Therapie psychischer Erkrankungen. Elsevier, 2013

Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie

Therapie: Überblick Die Behandlung alkoholgefährdeter und alkoholabhängiger Patienten muss Stadien-spezifisch und individuell geplant werden: Früherkennung und Frühintervention Qualifizierte Entzugsbehandlung Langzeitentwöhnungsbehandlung Psychotherapeutische Strategien Pharmakologische Rückfallprophylaxe Quellenangaben: Voderholzer, U., Hohagen, F. Therapie psychischer Erkrankungen. Elsevier, 2013

Früherkennung und Frühintervention (I) Das ideale suchtmedizinische Konzept muss viele Betroffene möglichst früh erreichen und es muss an die Schwere der Suchterkrankung, an das Krankheitsbewusstsein und an die Veränderungsmotivation angepasst sein und wirksam und wirtschaftlich funktionieren Ein Fünftel der Krankenhausbetten sind auch „Suchtbetten“ und potenzielles Ziel von Frühinterventionen Betroffene im Vorstadium oder im Frühstadium stellen die größte Teilgruppe aus der Gesamtpopulation der Alkoholkranken, die Versorgung dieser Gruppe ist dagegen qualitativ und quantitativ am schlechtesten Quellenangaben: Voderholzer, U., Hohagen, F. Therapie psychischer Erkrankungen. Elsevier, 2013

Früherkennung und Frühintervention (II) Indirekte Verfahren Sollen eventuelle Dissimulation oder Leugnung aufseiten der Patienten umgehen Neben klinischen Tests und indirekten Fragebogenverfahren werden insbesondere typische Laborparameter, wie die Gammaglutamyltransferase (γ-GT), die Transaminasen (ALAT, ASAT), mittleres Zellvolumen (MCV) und das Carbohydrate Deficient Transferrin (CDT) eingesetzt Eine besonders hohe Sensitivität zeigt das Phosphatidylethanol (PEth), ein Phospholipid, welches nur in Anwesenheit von Alkohol gebildet wird Ein weiterer potenzieller Prädiktor für unerkannte Alkoholprobleme kann auch die häufig assoziierte starke Nikotinabhängigkeit sein Quellenangaben: Voderholzer, U., Hohagen, F. Therapie psychischer Erkrankungen. Elsevier, 2013

Früherkennung und Frühintervention (III) Direkte Verfahren Fördern Selbstaussagen von Patienten und bieten besseren und sensitiveren diagnostischen Zugang als indirekte Verfahren Standardisierte direkte Verfahren sind der Alcohol-Use-Disorder- Identification-Test (AUDIT), der AUDIT-G-M und der Lübecker Alkoholabhängigkeits-und Missbrauchs-Screening-Test (LAST) Nach positivem Screening bietet es sich an, auch eine standardisierte Methode zur definitiven Diagnose von schädlichem Gebrauch und Abhängigkeit einzusetzen (internationale Diagnose-Checklisten) Quellenangaben: Voderholzer, U., Hohagen, F. Therapie psychischer Erkrankungen. Elsevier, 2013

Früherkennung und Frühintervention (IV) Screening-Fragebogen Alkohol: AUDIT (> 8 Punkte positiv; Babor et al. 1989) 10 Fragen 1 2 3 4 1. Wie oft trinken Sie alkoholische Getränke? nie 1 x Monat oder seltener 2 x Monat 3 x Monat 3-4 x Monat oder öfter 2. Wie viele alkoholische Getränke trinken Sie pro Tag? 1-2 3-4 5-6 7-9 10 oder mehr 3. Wie oft trinken Sie 6 oder mehr alkoholische Getränke pro Tag? weniger als 1 x Woche fast täglich 4. Wie oft hatten Sie im letzten Jahr das Gefühl, Sie könnten nicht aufhören zu trinken, wenn Sie angefangen haben ? 5. Wie oft konnten Sie im letzten Jahr nicht das tun, was von Ihnen erwartet wurde, weil Sie Alkohol getrunken haben? 6. Wie oft brauchen Sie morgens ein alkoholisches Getränk, weil Sie vorher stark getrunken haben? 7. Wie oft haben Sie im letzten Jahr Gewissens- bisse gehabt oder sich schuldig gefühlt? 8. Wie oft hatten Sie sich im letzten Jahr nicht an Ereignisse aus der Nacht zuvor erinnern können, weil Sie Alkohol getrunken hatten ? 9. Haben Sie sich oder einen anderen schon einmal verletzt, weil Sie Alkohol getrunken hatten? nein Ja, aber nicht im letzten Jahr Ja, im 10. Hat Ihnen ein Verwandter, Freund oder Arzt geraten, Ihren Alkoholkonsum zu verringern?

Früherkennung und Frühintervention (V) Frühinterventionen Kurz-intervention Hauptzielgruppen sind Betroffene mit riskantem Konsum und schädlichem Gebrauch, Betroffene in der frühen Phase der Abhängigkeitsentwicklung und Betroffene mit häufig noch geringer Motivation zu einer Verhaltensänderung Ziele der Kurzintervention, variieren von Konsumreduktion bei riskantem Konsum bis zu Überführung in eine Akutbehandlung bei schweren alkoholbezogenen Störungen Die Kurzintervention hat überwiegend beratenden Charakter: Informationsvermittlung über mögliche Folgen des Alkoholkonsums Bestimmung der individuellen, schon eingetretenen oder drohenden, Konsumfolgen Erarbeitung von Diskrepanzen zwischen den langfristigen Zielen (z.B. Abwehr der drohenden Probleme) und dem derzeitigen Verhalten Anbindung zur Förderung der Auseinandersetzung mit dem Alkoholproblem und Anbieten von Anlaufstellen suchtspezifischer Hilfe Motivierende Gesprächsführung: Wesentliche Merkmale: empathische Grundhaltung mit Verzicht auf Konfrontation, Förderung der Veränderungsbereitschaft und Selbstwirksamkeit, Vereinbarung gemeinsamer Behandlungsziele, offene, nicht wertende Fragen, reflektierendes Zuhören, positive Rückmeldungen und regelmäßige Zusammenfassungen Quellenangaben: Voderholzer, U., Hohagen, F. Therapie psychischer Erkrankungen. Elsevier, 2013

Früherkennung und Frühintervention (VI) Frühinterventionen Kurz-interventionen Hauptzielgruppe sind Betroffene mit riskantem Konsum und schädlichem Gebrauch, Betroffene in der frühen Phase der Abhängigkeitsentwicklung und Betroffene mit häufig noch geringer Motivation zu einer Verhaltensänderung Ziele der Kurzintervention, variieren von Konsumreduktion bei riskantem Konsum bis zu Überführung in eine Akutbehandlung bei schweren alkoholbezogenen Störungen Die Kurzintervention hat überwiegend beratenden Charakter: Informationsvermittlung über mögliche Folgen des Alkoholkonsums Bestimmung der individuellen, schon eingetretenen oder drohenden, Konsumfolgen Erarbeitung von Diskrepanzen zwischen den langfristigen Zielen (z.B. Abwehr der drohenden Probleme) und dem derzeitigen Verhalten Anbindung zur Förderung der Auseinandersetzung mit dem Alkoholproblem und Anbieten von Anlaufstellen suchtspezifischer Hilfe Motivierende Gesprächsführung: Wesentliche Merkmale: empathische Grundhaltung mit Verzicht auf Konfrontation, Förderung der Veränderungsbereitschaft und Selbstwirksamkeit, Vereinbarung gemeinsamer Behandlungsziele, offene, nicht wertende Fragen, reflektierendes Zuhören, positive Rückmeldungen und regelmäßige Zusammenfassungen Quellenangaben: Voderholzer, U., Hohagen, F. Therapie psychischer Erkrankungen. Elsevier, 2013

Früherkennung und Frühintervention (VII) Frühinterventionen Kurz-interventionen Kurzinterventionen umfassen maximal vier Beratungseinheiten mit einer Gesamtdauer nicht über 60 Minuten (Evidenzniveau Ia) Soll die Intervention bei Alkoholabhängigkeit mit einer Pharmakotherapie kombiniert werden, bietet sich das „Medical Management“ an (MM) Das MM ist eine standardisierte Anleitung zur klinischen Intervention in nichtspezialisierten Behandlungseinrichtungen Ziel der MM-Intervention ist die Förderung der Medikationscompliance, Informationsvermittlung über Alkoholabhängigkeit und Pharmakotherapie sowie Unterstützung bei der Veränderung der Trinkgewohnheiten Quellenangaben: Voderholzer, U., Hohagen, F. Therapie psychischer Erkrankungen. Elsevier, 2013

Alkoholentzugssymptombogen (AESB) 1. Blutdruck Alter Bis 30 Jahre 31-50 Jahre > 50 Jahre bis 120/80 bis 130/85 bis 140/90 1 bis 135/90 bis 145/95 bis 155/100 2 bis 150/95 bis 160/100 bis 170/105 3 bis 180/110 4 > 170/105 > 180/110 2. Ruhepuls 0 = <92/min 1 = 92-103/min 2 = 104-115/min 3 = 116-127/min 4 = >128/min 3. Tremor 0 = Kein Tremor 1 = Fingertremor bei ausgestreckten Fingern 2 = Händetremor bei ausgestreckten Armen 3 = Deutlicher Ruhetremor von Fingern und Händen 4 = Schwerer Ruhetremor von Armen und Beine 4. Schwitzen 0 = Kein Schwitzen 1 = Warme, feuchte Hände 2 = Umschriebene Schweißperlen 3 = Ganzer Körper feucht 4 = Massives Schwitzen 5. Übelkeit / Erbrechen / Durchfall 1 = Keine Übelkeit 2 = Mäßige Übelkeit 3 = Schwere Übelkeit 6. Ängstlichkeit / Nervosität 1 = Keine Ängstlichkeit oder Nervosität 2 = Leicht Ängstlichkeit 3 = Mäßige Ängstlichkeit 4 = Schwere Ängstlichkeit 5 = Massive Ängstlichkeit oder Nervosität / Panik 7. Psychomotorische Unruhe 0 = Ruhige, unauffällige Bewegungen 1 = Zappeligkeit, leichte Unruhe 2 = Mäßige Bewegungsunruhe 3 = Dauernde 4 = Massive Unruhe und Erregtheit 8. Orientierung 0 = Voll orientiert 1 = Zur Zeit unscharf orientiert, sonst orientiert 2 = Zur Zeit nicht orientiert, sonst orientiert 3 = Zur Person orientiert, zu Ort /Zeit teilweise orientiert 4 = Zur Person orientiert, zu Ort/Zeit nicht orientiert 5 = vollständig desorientiert 9. Trugwahrnehmungen / Halluzinationen 0 = Keine 1 = Wahrnehmungs-verschärfung 2 = Vorübergehende Verkennungen 3 = Fluktuierende Halluzinationen 4 = Länger andauernde Halluzinationen 5 = Ständige Halluzinationen 10. Krampfanfall 1= Keiner 2 = Erster Anfall 2 = Ein Anfall zuvor 3 = ≥ 2 Anfälle zuvor

Alkoholentzugsbehandlung Medikamente Dosierung und Schemata Clomethiazol (Distraneurin®) Beginn mit 2-4 Kps. In den ersten 2h 6-8 Kps. möglich Dann alle alle 2h nach Symptomatik 1-3 Kps. Höchstdosis 24 Kps. täglich CAVE: Atemdepression, bronchiale Hypersekretion Oxazepam (Adumbran®) Tag 1: Beginn mit 25-50mg, Tageshöchstdosis 300mg Tag 2: Verteilung der (hochgerechneten) Tagesdosis auf 4 Einzeldosen Ab Tag 3: Reduktion um 25mg täglich 25mg Oxazepam = ca. 2 Kps. Clomethiazol Clonidin Bei sehr hohen RR-Werten zusätzlich Carbamazepin oder Valproat Bei vorherigen Krampfanfällen im Entzug oder entsprechenden EEG-Veränderungen

Clonidin / Clonistada NIE mit Dociton Alkoholentzugsbehandlung mit Oxazepam Tag 1:   Entzugsüberwachung 2-stündlich, bei beginnender Entzugssymptomatik Aufdosierung von Oxazepam in einer Dosis von jeweils 25mg. Erstdosis, wenn nötig, mit 50mg beginnen. Eine Gesamtdosis von 300mg sollte nur in medizinisch indizierten Ausnahmefällen überschritten werden. Tag 2 Verteilung der (hochgerechneten) Tagesdosis auf 4 Einzeldosen. Findungsphase (evtl. Adaptation abhängig von Entzugssymptomatik) Tag 3 Reduktion von 25mg Oxazepam täglich, verteilt auf mindestens 2 Einzeldosen CAVE / Achtung: Clonidin / Clonistada NIE mit Dociton

Alkoholentzugsdelir (Delirium tremens): Delirantes Syndrom mit Erregungszustand (mit Hinweis auf Alkohol- & Benzodiazepinentzug) Alkoholentzugsdelir (Delirium tremens): Clomethiazol ist 1. Wahl Die Dosierung erfolgt nicht schematisch, sondern nach Sedierungsgrad und Schwere der Entzugssymptome. Die Erhebung der Entzugsschwere erfolgt z.B. mit dem Alkoholentzugssymptombogen (AESB) Ggf. in Kombination mit einem Antipsychotikum, v.a. Haloperidol 5- 10mg oder Risperidon 1-2mg Alternativ Kombination von einem BZD (z.B. Oxazepam) mit einem Antipsychotikum (Haloperidol oder Risperidon) CAVE: Alleinige Gabe von Haloperidol führt zur erhöhten Mortalität, größere Anzahl schwerwiegender Nebenwirkungen und längerer Dauer des Delirs!

Dosierung Clomethiazol nach AESB: Delirantes Syndrom mit Erregungszustand (mit Hinweis auf Alkohol- & Benzodiazepinentzug) Dosierung Clomethiazol nach AESB: 1 Kps. (192mg) äquivalent zu 6ml Mixtur (189mg) Tag 1-4: Überwachung in 2h-Intervallen, Tag 5: 3h-Intervall, Tag 6: 4h-Intervall, Tag 7: 6h-Intervall, Tag 8: 8h-Intervall, ab Tag 9: 12h-Intervall. Zu den Überwachungszeitpunkten Erfassung AESB: 0-4 Punkte: Keine Kps. 5-7 Punkte: 1 Kps. 8-10 Punkte: 2 Kps. ≥ 11 Punkte: 3 Kps.

Dosierung Clomethiazol fixes Schema: Delirantes Syndrom mit Erregungszustand (mit Hinweis auf Alkohol- & Benzodiazepinentzug) Dosierung Clomethiazol fixes Schema: Initial 2-4 Kps. oder 10-20ml Mixtur In den ersten 2h 6-8 Kps., Höchstsdosis 24 Kps./24h Nach Plateauphase von ca. 3 Tagen, schrittweise Reduktion von 2-3 Kps. täglich Maximale Verordnungsdauer 14 Tage CAVE: Abhängigkeitsgefahr CAVE: Atemdepression, bronchiale Hypersekretion

Qualifizierte Entzugsbehandlung Die Qualifizierte Entzugsbehandlung umfasst eine Kombination aus körperlicher Entzugsbehandlung und psychotherapeutischer Begleitung (3-6 Wochen) Die körperliche Entzugssituation wird als Chance zur Krankheitseinsicht aufgefasst Neben einer differenzierten und somatisch Diagnostik sowie der Behandlung der Entzugssymptome, der körperlichen Begleit- erkrankungen und der Folgeerkrankungen wird über psychoedukative und psychotherapeutische Ansätze Motivationsarbeit geleistet Die Qualifizierte Entzugsbehandlung zeigt für Männer und Frauen gleichermaßen gute Langzeitergebnisse Quellenangaben: Voderholzer, U., Hohagen, F. Therapie psychischer Erkrankungen. Elsevier, 2013

Langzeitentwöhnungsbehandlung In Deutschland ist das Versorgungssystem vornehmlich für den schwer alkoholabhängigen Patienten konzipiert Die traditionelle Trias aus Fachkliniken für die Alkoholentwöhnungsbehandlung, Fachberatungsstellen und Selbsthilfegruppen arbeitet mit psychotherapeutischen, soziotherapeutischen und edukativen Verfahren Durch eine stationäre Alkoholentwöhnung im Rahmen einer mehrmonatigen Rehabilitationsbehandlung, können Abstinenzraten bis 70% nach 1 Jahr und bis zu 50% nach 16 Jahren erreicht werden Diese Maßnahmen der tertiären Prävention zur Reduktion der Folgen einer bereits eingetretenen Erkrankung erreichen aber nur einen Bruchteil der tatsächlich Betroffenen und setzen spät ein Über 70% der aktuell Alkoholabhängigen in Deutschland hatten in ihrem gesamten Leben noch keinen einzigen Kontakt zu suchtspezifischer Hilfe Quellenangaben: Voderholzer, U., Hohagen, F. Therapie psychischer Erkrankungen. Elsevier, 2013

Psychotherapeutische Strategien Motivationssteigerungsansätze, kognitiv verhaltenstherapeutische Interventionen, soziales Kompetenztraining, Paar- und Familientherapie, Reizexposition und gemeindenahe Verstärkermodelle erreichen das Evidenzgrad Ia Generelle Merkmale der psychotherapeutischen Suchtbehandlung: Frühestmögliche Herstellung des persönlichen therapeutischen Kontaktes noch in der Krisensituation Fokussierung der psychotherapeutischen Interventionen auf die Abhängigkeitserkrankung Vorzug überschaubarer und konkreter Ziele gegenüber weit entfernten und überhöhten Ansprüchen Aktive Hilfestellung zur Bewältigung unmittelbar anliegender, konkreter Probleme und Förderung der Bereitschaft zur Annahme weiterer Hilfe durch Motivationstherapie Generelle Informationen über die Krankheit werden mit der persönlichen Betroffenheit des Patienten verbunden und konkrete pathologische Befunde werden erörtert Informationsvermittlung über weitere Behandlungsmöglichkeiten, insbesondere ambulante oder stationäre Entwöhnungsbehandlungen und die Vereinbarung der nächsten Schritte Quellenangaben: Voderholzer, U., Hohagen, F. Therapie psychischer Erkrankungen. Elsevier, 2013

Pharmakologische Rückfallprophylaxe (I) Obwohl der Behandlungserfolg von Entwöhnungsbehandlungen belegt ist, erleiden ca. 40–60% der Patienten innerhalb von ein bis zwei Jahren einen Rückfall Nur ca. 1% aller Abhängigen kommt pro Jahr zu einer stationären Entwöhnungsbehandlung Zur rückfallprophylaktischen Pharmakotherapie können in Kombination mit psychotherapeutischen / psychosozialen Maßnahmen sog. „Anticraving-Substanzen“ eingesetzt werden, Diese reduzieren das Alkoholverlangen, ohne selbst Abhängigkeitspotenzial innezuhaben oder anderweitig psychotrop zu wirken

Pharmakologische Rückfallprophylaxe (II) Substanz Indikation/Beschreibung Evidenzgrad Disulfiram (z.B. Antabus®) Aversivbehandlung, welche eine Unverträglichkeitsreaktion auslöst (z.B. Erbrechen, Schwindel, Angst) Hemmt die Aldehyddehydrogenase, was bei Alkoholzufuhr zu starkem Acetaldehyd Anstieg führt Supervidierte Verabreichung nach strenger Indikationsstellung Anwendung bei kooperativen und sozial stabilen Patienten Nalmefen Ein Opiatantagonist (μ und δ) mit partieller Kappa-agonistischer Wirkung Zulassung beantragt Baclofen Ein selektiver GABA-B-Agonist, der bisher nur zur Behandlung spastischer Skelettmuskulatur zugelassen ist keine Therapie-empfehlung Quellenangaben: Voderholzer, U., Hohagen, F. Therapie psychischer Erkrankungen. Elsevier, 2013; Frauenknecht, S., Lieb, K. Last minute Psychiatrie. Elsevier, 2011

Pharmakologische Rückfallprophylaxe (III) Substanz Indikation/Beschreibung Evidenzgrad Acamprosat Kalzium-Bis-Acetyl-Homotaurinat Antagonistische Wirkung am glutamatergen NMDA-Rezeptor Nebenwirkungen: Diarrhöen, andere gastrointestinale, Beschwerden, Kopfschmerzen, Juckreiz Kontraindikationen: Schwangerschaft oder Stillzeit, Serum Kreatinin > 120 μmol/l bei Patienten mit Niereninsuffizienz, Vorliegen einer schweren Leberinsuffizienz Therapiebeginn sollte nach Entgiftung und Motivation zur Abstinenz erfolgen Empfohlene Behandlungsdauer: 12 Monate Therapie-empfehlung Naltrexon μ-Opiat-Rezeptor-Antagonist, gegen Alkohol-Craving Nebenwirkungen: Übelkeit, gastrointestinale Beschwerden, Kopfschmerzen (insgesamt gut verträglich) Kontraindikationen: Opiatkonsum Empfohlene Behandlungsdauer: länger als 3 Monate Die Kombination von Naltrexon und Acamprosat steigert die Abstinenzrate um 10–20% Quellenangaben: Voderholzer, U., Hohagen, F. Therapie psychischer Erkrankungen. Elsevier, 2013; Frauenknecht, S., Lieb, K. Last minute Psychiatrie. Elsevier, 2011

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