Klaus-Jürgen Schlenck Fachklinik Enzensberg Grundlagen zum Umgang mit Schülerinnen und Schülern mit Störungen des Sprechens und der Sprache Klaus-Jürgen Schlenck Fachklinik Enzensberg
Sehr wichtige Unterscheidung: Stimmstörung: betrifft die Phonation Sprechstörung: betrifft die Artikulation und die Flüssigkeit des Sprechens Sprachstörung: betrifft alle Modalitäten: Sprechen, Verstehen, Lesen und Schreiben
Störungen des Sprechens und der Sprache bei Kindern Stimmstörungen Störungen der Sprechflüssigkeit: Stottern und Poltern Lautfehlbildungen: Dyslalien Störungen der Sprachentwicklung: SES Störungen der Schriftsprache: Entwicklungsdyslexie/-dysgraphie
Stimmstörungen bei Kindern Störung der Phonation Häufigstes Symptom: heisere Stimme
Stimmlippen bei Atmung
Schwingungen der Stimmlippen Aerodynamischer Prozess (Bernoulli Effekt) Beeinflusst durch anatomische Gegebenheiten Beeinflusst durch muskuläre Spannung der Stimmlippen Beeinflusst durch Anblasdruck
Kindliche Stimmstörungen Recht häufig (bis zu 25% aller Schulkinder) Ursachen: Anatomische Veränderungen beim Wachsen Gleichzeitig starke Belastung der Stimme durch spielen, singen, schreien Ungünstige Phonationstechniken
Stimmlippen bei Phonation
Stimmlippenknötchen
Was kann der Lehrer tun? Bei lange anhaltender Heiserkeit (oder Flüsterstimme, oder sehr hoher Stimme) Eltern ansprechen u. HNO-ärztliche Untersuchung empfehlen
Störungen des Sprechens und der Sprache bei Kindern Stimmstörungen Störungen der Sprechflüssigkeit: Stottern Lautfehlbildungen: Dyslalien Störungen der Sprachentwicklung: SES Störungen der Schriftsprache: Entwicklungsdyslexie/-dysgraphie
Stottern bei Kindern Unflüssiges Sprechen Symptome: Wiederholungen von Lauten, Silben oder Wörtern Stocken, Pressen oder Dehnen von Lauten Anspannung beim Sprechen Mitbewegungen beim Sprechen Vermeiden von Silben oder Wörtern
Stottern: behandlungsbedürftig? Im Vorschulalter: Phase des „physiologischen“ Stotterns, bis zu 6 Monate, Teil der normalen Sprachentwicklung Stottern, das länger anhält ist immer behandlungsbedürftig!
Stottern: therapeutische Möglichkeiten Abklären, ob Stottern im Zusammenhang mit sprachlichen Problemen steht, ggfls. diese behandeln Wenn nicht: Techniken zur Stottervermeidung. Symptomfreies Sprechen wird dadurch möglich Grundsätzlich nicht „heilbar“
Stottern: Wie häufig? Prävalenz ca. 1% der Bevölkerung Ca. 80 % der Stotterer sind männlich
Umgang mit stotternden Schulkindern Selbstbewusstsein stärken (Lob im Zusammenhang mit mündlichen Darbietungen) Auf den Inhalt achten (nicht auf die Form) Rückmelden, wenn Kommunikation – trotz stottern - gelingt
Umgang mit stotternden Schulkindern NICHT auf Stottern hinweisen NICHT: „sprich langsam!“ „hol tief Luft“ „überleg erst, was Du sagen willst1“ „sprich deutlich“
Umgang mit stotternden Schulkindern Keine Sonderstellung wegen Stottern!
Poltern Störung der Sprechflüssigkeit Tachylalie: zu schnelles Sprechen mit Auslassen von Lauten und Silben Grundsätzlich dem Stottern sehr ähnlich
Störungen des Sprechens und der Sprache bei Kindern Stimmstörungen Störungen der Sprechflüssigkeit: Stottern Lautfehlbildungen: Dyslalien Störungen der Sprachentwicklung: SES Störungen der Schriftsprache: Entwicklungsdyslexie/-dysgraphie
Dyslalien Betroffene Kinder haben den motorischen Ablauf der Artikulation eines bestimmten Lautes nicht korrekt erworben: der Laut wird deshalb abweichend gebildet Am häufigsten betroffen: /s/ („Sigmatismus“, „lispeln´“) /sch/ („Schetismus) /r/ („Rhotismus“)
Dyslalien behandeln? Wenn wirklich „nur“ eine isolierte Lautfehlbildung besteht, muss man nicht behandeln Keine Auswirkungen auf schulische Leistungen Rein „kosmetisch“
Dyslalien rein „kosmetisch“? Andererseits... Lautfehlbildungen sind oft nur die „Spitze des Eisbergs“ Manche Kinder leiden unter dem „Sprechfehler“ Die gesellschaftliche Akzeptanz nimm zwar zu ... Leicht zu beseitigen
Dyslalien: Worauf Lehrerinnen achten sollten leidet das Kind darunter? hat es Nachteile dadurch? (z.B. wird es gehänselt?) führt es zu Problemen in Fremdsprachen?
Sprachentwicklungsstörung: Abweichung von der „nomalen Sprachentwicklung Die normale Sprachentwicklung vollzieht sich in gut definierbaren Phasen, die bei allen Kindern zu beobachten sind.
Sprachentwicklung Lallphase bis ca. 9. Lebensmonat Beginnendes Wortverstehen ab ca. 9. Lebensmonat Erkennen des eigenen Namens ab ca. 14. Lebensmonat
Sprachentwicklung Einwortphase: Äußerungen aus nur einem Wort, meist Nomen: „Papa, wauwau“, „Puppe“, ab ca. 12. Lebensmonat, noch viele Lautbildungsfehler
Sprachentwicklung Einwortphase, ab ca. 12. Lebensmonat Zweiwortphase: Äußerungen aus 2 Wörtern, „Papa kommen“ „wauwau lieb“, „schön spielen“, noch viele Lautbildungsfehler, ab ca. 24. Lebensmonat, noch viele Lautbildungsfehler
Sprachentwicklung Einwortphase, ab ca. 12. Lebensmonat Zweiwortphase, ab ca. 24. Lebensmonat Dreiwortphase: Äußerungen mit drei Wörtern, noch infinite Verben in Endstellung: „Lisa Eis essen“, „Hund sehr böse“, „Papa immer schimpfen“, oft noch Lautbildungsfehler, ab ca. 36. Lebensmonat
Sprachentwicklung Einwortphase, ab ca. 12. Lebensmonat Zweiwortphase, ab ca. 24. Lebensmonat Dreiwortphase,ab ca. 36. Lebensmonat Erwerb finiter Verben mit Verbzweitstellung: „Papa lacht immer“, „Lisa will Eis haben“, ab ca. 42. Lebensmonat, kaum noch Lautbildungsfehler
Sprachentwicklung Einwortphase, ab ca. 12. Lebensmonat Zweiwortphase, ab ca. 24. Lebensmonat Dreiwortphase,ab ca. 36. Lebensmonat Erwerb finiter Verben mit Verbzweitstellung, ab ca. 42. Lebensmonat, Spätestens mit 4 Jahren grundlegender Spracherwerb abgeschlossen
Sprachentwicklungsverzögerung Sprachentwicklungsstörung Verzögerung: Normale Sprachentwicklung um 6 – 12 Monate verzögert Störung (SES): Um mehr als 12 Monate verzögert, oder ab dem 3. Lebensjahr
Sprachentwicklungsstörung: Ursachen Sekundäre SES Primäre (spezifische) SES
Sekundäre SES: Folge einer Sensorischen Beeinträchtigung (z.B. Hörstörung) Intelligenzminderung oder Mentalen Retardierung (z.B. Down Syndrom) Tiefgreifende Entwicklungsstörung (z.B. Autismus) Neurologischen Störung (z.B. Aphasie, Dysarthrie) Ungünstige Umweltbedingungen (Vernachlässigung)
Sprachentwicklungstörung Prävalenzschätzungen: 10 – 20 % Lexikalisch: geringer Wortschatz, Probleme beim Erfassen von Wortbedeutung, verzögerte Wortfindung Syntaktisch morphologisch: Probleme im Satzbau und bei Flexionsendungen Phonologisch: Probleme in der Lautstruktur
Bielefelder Studie: 1395 Kinder im Alter von 5-6 Jahren (Grimm 2003)
Nur deutschsprachige Kinder (n = 1014)
Nur ausländische Kinder: n = 347
Langzeitentwicklung SES „wächst sich nicht aus“ Kinder, die im Vorschulalter eine SES haben, zeigen zu einem großen Teil 50 % (Grimm 2003) 65 % (Webster et al, 2004) erhebliche schulische Defizite im 1.- 3. Schuljahr, selbst bei „late bloomers“
Late talkers und late bloomers Late talkers: sehr viele 2-jährige haben einen deutlich eingeschränkten Wortschatz Late bloomers: nur bei etwa 6 – 8 % dieser Kinder bleibt die SES bestehen, die anderen „holen auf“ Aber: Von diesen „late bloomers“ zigen viele (ca. 50%) sprachliche Defizite im Schulalter
SES im Vorschulalter konzentriert sich oft auf ... Lexikalische-semantische Verarbeitung Syntaktische-morphologische Verarbeitung und/oder Phonologische Verarbeitung
Lexikalisch-semantische Störung Im Vorschulalter: kleiner Wortschatz, verzögerte Wortfindung, unvollständige Sätze, Paraphasien, Neologismen, Vage Ausdrücke (Ding, Zeug, tun, etc. )Wortverständnis eingeschränkt, oft insgesamt schwer gestört
Lexikalisch-semantische Störung Im Schulalter: Schwerfällig im Ausdruck Oft ungenau (oder leicht daneben) Wortschatz klein
Lexikalisch-semantische Störung Im Vorschulalter: Dysgrammatismus: Äußerungen wie Papa Buch lesen Der Pferd Wiese läuft Katze bei Sofa liegt
Syntaktisch-morphologische Störung Im Schulalter, nach scheinbarer Rückbildung: Satzabbrüche, falsche Funktionswörter, falsche Genus-/Kasusendungen (notorisch: dem vs. den), Probleme bei der Kommasetzung, Präferenz für syntaktische Koordination („und dann“), oft auch undeutliches Sprechen (nuscheln) bei morphologischen Unsicherheiten
Phonologische Störung Phonologische Entwicklung hat Sonderstellung. Primäre phonologische Fähigkeiten vs. phonologische Bewusstheit
Primäre phonologische Entwicklung Entwicklung phonetischer Fähigkeiten Phonemerwerb: Unterscheidung zwischen bedeutungsunterscheidenden und nicht bedeutungsunterscheidenden phonetischen Unterschieden /Rot – rot/ /see – Oee/ Katze – Tatze/
Entwicklung der phonologischen Bewusstheit Erwerb phonetischer Fähigkeiten Phonemerwerb zunächst über ganzheitliche Fähigkeiten Phonologische Bewusstheit: Fähigkeit, die Lautstruktur eines Wortes zu analysieren und zu manipulieren
Phonologische Bewusstheit im Vorschulalter (5 Jahre) Silben segmentieren: Ba – na – ne Onset-Reim Aufgaben: „Welches Wort reimt sich mit Tier: tief oder Bier“ Vokale identifizieren: „In welchem Wort hörst Du ein au: Auto oder Schwein?“ Pseudowörter nachsprechen: „grela“
Phonologische Bewusstheit im Vorschulalter als Prädiktor für schulische Leistungen 6 Monate vor Einschulung: Phonologische Bewusstheit kleiner PR 15 Ende 2. Schuljahr: Rechtschreibung kleiner PR 15, p = 65,2 % Lesen kleiner PR 15: p = 72,7 % Mathematik kleiner PR 15: p = 12 %
Häufige Entwicklungsstufen zur Entwicklungsdyslexie/ -dysgraphie Evtl. (nicht immer) late talker Mit 3.5 Jahren noch Lautbildungsfehler und/oder phonematische Fehler Mit 4.5 Jahren spontanes Sprechen unauffällig (late bloomer) Mit 5 Jahren phonologische Bewusstheit auffällig (meist unentdeckt) Im 3. Schuljahr als „Legastheniker“ erkannt
Entwicklungsdyslexie: Was kann die Lehrerin tun? Wenn der Lehrer aufmerksam wird, ist es bereits relativ spät Auffälligkeiten in der Spontansprache? Immer Handlungsbedarf! Wissen um Bedeutung von phonologischer Bewusstheit
Mögliche Fördermaßnahmen: Förderung der phonologischen Bewusstheit im 1. und 2. Schuljahr: Silben segmentieren muss perfekt sein Reime finden: Ganz ideal: reimen (mit Versmaß) Vokale ersetzen: Ersetze alle a durch i: Mittag zu Mittig Phoneme identifizieren in Pseudowörtern: Sag alle Laute, die Du hörst: skop
Mögliche Fördermaßnahmen: Förderung der phonologischen Bewusstheit im 1. und 2. Schuljahr: Wörter manipulieren: Was wird aus „Stein“ ohne /t/? Onset-Reim manipulieren: „weich und Schach“ wird zu „Scheich und wach“ Vokallängen in Pseudowörtern erkennen: ro:n, li:n, ges, we:l/ Bewusst lange von kurzen Vokalen in Pseudowörtern(!) unterscheiden
Therapie (nach spezifischer Diagnostik) ist sehr erfolgversprechend Therapieaufbau: Allgemeine Sprachentwicklung abklären Primäre phonologische Entwicklung Phonologische Bewusstheit Orthographische Regeln anhand von Pseudowörtern einüben Übertrag auf Wörter und Sätze
Sinnvolle Maßnahmen während der Therapie Lesen und Rechtschreibung nicht/weniger stark benoten Mehr Zeit einräumen für Lesen und Schreiben
Lese-Rechtschreib Schwäche oder Störung? Unterscheidung begrenzt sinnvoll Kontinuum der Lese-Rechtschreib und auch der zugrunde liegenden Fähigkeiten Unterscheidung zwischen „vorübergehend“ und „bleibend“ absolut unsinnig