Das Beispiel Frankreich Stadt und Gewalt Das Beispiel Frankreich Einführung in die Stadtsoziologie Sommersemester 2013
Kontext und Methodik 2003-2004: Forschungsaufenthalt am Institut für Politikwissenschaften, Paris und am Französischen Institut für Urbanistik 2005-2007: Fellow des EU-Forschungsnetzwerkes „urbEurope“ unter Leitung von R. Sennett, P. Le Galès u. H. Häußermann. 2005-2008: Teilnahme an einer internationaler Vergleichsstudie im Auftrag des Französischen Bauministeriums und des Instituts für Sicherheitspolitik 2007: Alfred Grosser-Lehrstuhl für Politikwissenschaften (Gastprofessur bei Science Po Paris) 2007: Organisator der Tagung „Urbane Gewalt und Jugendprotest. Deutsch-französische Perspektiven auf die Unruhen in den Vorstädten im Herbst 2005“ am Centre Marc Bloch, Berlin (gefördert von der Deutsch-Französischen Universität) Methodik: 2003-2005 Literaturstudien, 12 Experteninterviews 2005-2006 Medienanalyse, vielfältige Besuche 2007 26 Narrative Interviews, 12 Experteninterviews
Veröffentlichungen F. Eckardt: Frankreichs Schwierigkeiten mit den Banlieues. In: Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.) Aus Politik und Zeitgeschehen, 38/2007, S. 32-39. F. Eckardt: Nicolas Sarkorzy, Präsident der Jugend? In: Blätter für deutsche und internationale Politik, 6/2007, S. 655-658. F. Eckardt: Frankreich: Ein Präsident für eine prekarisierte Gesellschaft. In: Internationale Politik und Gesellschaft, 3/2007, S. 53-68. F. Eckardt: Die neue politische Geographie Frankreichs. In: Kommune: Forum für Ökonomie, Kultur und Politik, Nr. 3/2007(2008) F. Eckardt, D. Sack, C. Keller: Les Villes allemandes dans une société «nébuleuse». In: J. Donzelot (dir.) Ville, violence et dépendance sociale. Les politiques en Europe. La Documentation Française 2008, S. 159-189.
1. Fragestellung Was passierte im November 2005 in den Vorstädten Frankreichs? 2. Wie konnte es soweit kommen? 3. Wie lassen sich die Ereignisse erklären? 4. Worin liegen die Unterschiede und Gemeinsamkeiten mit den deutschen „Problemgebieten“?
Inhalt 0. Kontext, Methode, Literatur Die Fragestellung Die Ereignisse des November 2005 Die neue Dynamik der „emeutés“ Die lange Vorgeschichte 4.1 Die Transformation der Banlieue 4.2 Das Versagen der Stadtpolitik 4.3 Die politische Entkoppelung Die Banlieue als Ort des Ausschlusses 5.1 Die Stigmatisierung der Banlieue 5.2 Die Sozialisation als Gemeinschaft 5.3 Die „Enträumlichung“ der Banlieue 6. Diskussion: Heute Frankreich, morgen Deutschland?
2. Die Ereignisse des November 2005 27. Oktober 2005: Bouna Traoré (15) und Zyed Benna (17) sterben durch den Elektroschock einer Trafostation, als sie vor einer Polizeikontrolle fliehen wollen. Ein dritter Jugendlicher, Muhtin Altun, erleidet schwere Verletzungen. Schon am selben Abend kommt es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen in Clichy.
2. Die Ereignisse des November 2005 Am folgenden Wochenende schließen sich in den benachbarten Vororten von Paris ähnliche Vorgänge an. Bis Anfang November haben sich Jugendliche auch in den westlichen und südlichen Pariser Banlieues angeschlossen. Bis dahin waren es vor allem kleine Gruppen von Jugendlichen, die sich mit der „Compagnies républicaines de sécurité“ (CRS) Auseinandersetzungen lieferten.
3. Die neue Dynamik der „émeutes“ 4./5. November 2005: Die Unruhen breiten sich in der Pariser Region (in 24 Vorstädten bis zu 500 Autos in Brand gesteckt) aus. Tags darauf schließen sich mehr als 200 Banlieues an. Am 8. November wird der Notstand verkündet und später für weitere drei Monate verlängert. Am 21. November werden in nur einer Nacht 9.071 Autos angezündet.
3. Die neue Dynamik der „émeutes“ Sarkozy bezeichnet die aufständischen Jugendlichen als „Gesindel“. Am 7. November kündigt der Minister weitere polizeiliche Maßnahmen an. Die Jugendlichen werden als Kriminelle dargestellt. In einem Interview im Dezember meint Sarkozy, er wisse, dass 70 Prozent dieser „Leute“ bereits eine kriminelle Vergangenheit haben.
3. Die neue Dynamik der „émeutes“ Von den im November 2005 angehaltenen 3.101 Personen werden schließlich 562 Erwachsene verhaftet. Von den Jugendlichen ist lediglich ein Drittel bereits „polizeibekannt“. Etwa 20 Prozent von Jugendlichen waren schon davor in Kontakt mit der Polizei. Durchschnittsalter: 15 - 20 Jahre Sie stammen überdurchschnittlich aus armen Familien und haben keinen Schulabschluss. Nur 44 Prozent aller aufgegriffenen Jugendlichen waren ins Bildungssystem integriert.
4. Die lange Vorgeschichte 4.1 Die Transformation der Banlieue 4.2 Das Versagen der Stadtpolitik 4.3 Die politische Entkoppelung
4.1 Die Transformation der Banlieue Der Bau großer Hochhaussiedlungen am Stadtrand geht auf die Philosophie Le Corbusiers zurück. In der Nachkriegszeit herrscht Bedarf an günstigem und stadtnahen Wohnraum. Die Banlieues sollten ein optimistisches und modernes Gesellschaftsbild verwirklichen, das zu der langen Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs passt. Im Jahr 1952 wurden die ersten Einheiten der 2.000 Wohnungen der Großsiedlung „Cité radieuse“ in Marseille fertig gestellt. Es folgte der Bau ähnlicher Hochhaussiedlungen (HLM) in ganz Frankreich, die als Ausgleich zum privatem Wohnungsbau und als Schmelztiegel für eine neue, gerechtere Gesellschaft angesehen wurden.
4.1 Die Transformation der Banlieue Die ansässigen weißen Franzosen verließen diese Vororte und die Hochhaussiedlungen wurden durch Einwandererfamilien bezogen. Rückzug der Mittelklasse aus den Gemeinschaftssiedlungen (1960 bis 1990) In politischer Hinsicht setzte ein Erosionsprozess des zumeist kommunistischen Arbeitermilieus ein. Mit dem Entstehen der strukturellen Arbeitslosigkeit ab 1973 wurden sie in kurzer Zeit zu Konzentrationsorten von Armut und ethnischer Diversität. Beispiel La Noé de Chanteloup-les-Vignes: 1976 sind Zweidrittel aller Einwohner französischer Herkunft, bis 1987 ist es umgekehrt.
4.1 Die Transformation der Banlieue Heute leben ca. 5 Millionen Franzosen in „Problemgebieten“ (ZUS- zone urbaines sensibles) Als ZUS-Kriterium gilt eine überdurchschnittliche Arbeitslosigkeit und geringeres Bildungsniveau. Im Jahr 2004 war die Arbeitslosenquote mit 20,7 % doppelt so hoch wie der nationale Durchschnitt. Für die Jugendlichen unter 25 Jahre lag sie sogar bei 36% Das Durchschnittseinkommen in den ZUS liegt bei 10.540 Euro (in Frankreich 17.184 Euro). In der Pariser Metropolregion lebt jeder vierte Jugendliche unter 20 Jahren in einer ZUS-Nachbarschaft.
4.2 Das Versagen der Stadtpolitik Als Reaktion darauf wurde in den achtziger Jahren die „Politique de la ville“ (Stadtpolitik) etabliert. Zielsetzung: Prävention, Solidarität und Jugendpolitik. Die Evolution der „Stadtpolitik“ führte zu einer verstärkten institutionellen Verankerung in der Politiklandschaft. Die Ausschreitungen in Vaulx-en-Velin im Jahr 1990 katalysierten die staatlichen Zuwendungen für das Programm, die Dezentralisierung der Budgets und die Präferenz für die Jugendhilfe. Ab 2000: Siebenjähriger „Contract de Ville“ In den Jahren von 1994 bis 2001 wurden 29,1 Milliarden Euro im Rahmen der „Politique de la ville“ ausgegeben.
4.2 Das Versagen der Stadtpolitik subtile Ethnisierung in der Programmausführung Stadtpolitik stellt interventionistische Politik dar, die einer dualistischen Denkstruktur von „wir/sie“ nach ethnischen Kriterien folgt. Die Stadtpolitik hat eher die bestehenden Zuschreibungen von Problemen verstärkt als bearbeitet.
4.2 Das Versagen der Stadtpolitik Die französische Stadtpolitik orientiert sich am Ideal der „gemischten Stadt“/„gemeinsamen Zusammenleben“. Die Philosophie der sozialen Mischung passt für kleine Städte und überschaubare Gemeinschaften, jedoch nicht in kulturell heterogenen und konfliktreichen Großsiedlungen. Die ursprüngliche städtebauliche Konzeption sah deshalb eine Beschränkung auf Wohneinheiten von 1.000 bis 3.000 Einwohnern vor, in denen soziale Vielfalt herrschen sollte. Staatliche Interventionen sind vorzugsweise bauliche Maßnahmen. Sie werden als politische Akte und Strategien gesehen, die in das sozial-kulturelle Gefüge der Banlieue eingreifen. Die Stadtpolitik missachtet die Eigeninitiativen der Banlieue-Bewohner.
4.2 Das Versagen der Stadtpolitik Die „Politique de la Ville“ operiert mit der Vorannahme, dass mit einer „ungleichen“ Behandlung Ungleichheiten zu begegnen ist. Die bevorzugte Unterstützung der „benachteiligten Stadtteile“ ist mit dem republikanischen Gleichheitsverständnis unvereinbar. Sie beruht auf einer mediativen und nicht problemlösend orientierten Philosophie. Die Effekte sind kontraproduktiv.
4.3 Die politische Entkoppelung Die Figur des kriminellen Jugendlichen aus der Banlieue ist allgegenwärtig und hat eine erhebliche politische Relevanz erhalten. Wahlkampf des Jahres 2002: Der „Sicherheitsdiskurs“ entscheidet die Wahlen.
4.3 Die politische Entkoppelung Die PCF kultivierte eine Dualisierung zwischen „wir“ (Bewohner der Banlieue) und „denen“ (Politik) Ab den neunziger Jahren ist dieser Dualismus in der politischen Propaganda auf die Kommunisten zurück- geschlagen. Sie wird als Teil des politischen Systems, also von „denen“, gesehen. Konsequenz: ein hoher Prozentsatz von Wahlenthaltung und Zustimmung für die Front National.
5. Die Banlieue als Ort des Ausschlusses 5.1 Die Stigmatisierung der Banlieue 5.2 Die Sozialisation als Gemeinschaft 5.3 Die „Enträumlichung“ der Banlieue
5.1 Stigmatisierung der Einwanderer Schon in den siebziger Jahren wurde ein „anderes“ Verhalten von Polizei, Beamten der U-Bahn-Gesellschaft und der Eisenbahn, Lehrern und anderen Vertretern von Institutionen gegenüber Jugendlichen aufgrund deren ethnischer Herkunft auffällig. Der Hass der Jugendlichen ist eine Reaktion auf das diskriminierende Verhalten.
5.1 Stigmatisierung der Banlieue Daraus ergeben sich sozio-kulturelle Konflikte, die sich in Alltagsdeliquenz äußern und von Seiten der Stadt, der Polizei und der Politik als Konflikte mit dualer Frontstellung wahrgenommen werden. Die Jugendlichen sind nicht in der Lage, um dieses Stigma zu bewältigen, obwohl sie eine vielfältige kulturelle Ausdrucksweise und finanziellen Mög- lichkeiten in der informellen Ökonomie haben. Die Repression der Jugendlichen schafft einen Teufelskreislauf von Gewalt.
5.2 Sozialisation als Gemeinschaft Die Banlieues sind nicht „desorganisiert“. Die soziale Reorganisation der Banlieue vollzieht sich in bewusster Abgrenzung gegenüber Frankreich. Graffitti, Rap und der allgemeine Habitus der Afroamerikaner schaffen ein Gefühl von Gemeinschaft.
5.2 Sozialisation als Gemeinschaft Es ergeben sich dadurch Konflikte mit den anderen Banlieue-Bewohnern. Sie beruhen auf unterschiedlichen Normvorstellungen. Die ehemaligen Arbeiter sind heute nicht mehr in der Lage, ihre Regeln und Vorstellungen über das Leben in den Banlieue durchzusetzen.
5.3 „Enträumlichung“ der Banlieue Das Bild einer sozialräumlichen Polarisierung Frankreichs stimmt so nicht. Gemessen nach Einkommen lässt sich für Frankreich insgesamt eine wachsende Mittelschicht (45 Prozent) nachweisen. Räumlich betrachtet, bemühen sich vor allem die aufsteigenden Familien darum, sich am stärksten abzugrenzen. Ihre Autosegregation verstärkt sich. Gleiches trifft auch für die klassischen Industriearbeiter zu, so dass es eine Vielzahl von Abgrenzungswünschen und ein sehr diverses Wohnmuster gibt. Dennoch gibt es nach wie vor in vielen Stadtteilen einen beträchtlichen sozialen Mix, der durch die Arbeitslosigkeit und Präkarität bedroht wird. Die Mittelschicht hat kaum Neigungen, die Stadt zu verlassen und siedelt in der Regel in andere sozial gemischte Quartiere um.
5.3 „Enträumlichung“ der Banlieue Arbeiter und Angestellte sind zunehmend von der Prekarisierung ihrer Lebensumstände betroffen. Das Hauptproblem ist nicht die Banlieue, sondern die Instabilisierung der Stabilen. Banlieues verkehren nicht in objektiv sozial schlechteren Umständen als etwa Nachbarschaften in altindustriellen Kleinstädten. Im Vergleich lässt sich in Kleinstädten ein hohes Maß an Loyalität finden.
5.3 „Enträumlichung“ der Banlieue Die Thematisierung der Banlieue wird möglich, weil sie sich medial als ein territoriales Problemgebiet darstellen lässt. Die Banlieues stellen eine einfache Form der Problembearbeitung (Territorialisierung sozialer Probleme) dar. Die Banlieue-Fixierung der französischen Öffentlichkeit ist eine Alibi-Politik. Die Krise der Banlieue ist ein „Kampf um Anerkennung“ (Axel Honneth).
6. Diskussion: Heute Frankreich, Morgen Deutschland? Gemeinsamkeiten: Zunehmende Präkarisierung der Lebensverhältnisse Disproportionale Betroffenheit der Zweiten und Dritten Generation der Einwanderer Zunehmende Segregation und soziale Ausschlüsse Politische Präferenz des sozialen Mix
6. Diskussion: Heute Frankreich, Morgen Deutschland? Unterschiede: höhere Integration in den Arbeitsmarkt andere Migrationshintergründe geringeres Aspirationsniveau höhere Individualisierung