Begabung und Intelligenz Begabtenförderung: Eine Aufgabe für Schule und Lehrerbildung Lana, Zollschule 7. September 2010 Prof. Dr. Willi Stadelmann Luzern (Schweiz)
Inhalt: Repetition zum Anschluss 2. Begabungsentwicklung: Neurobiologische Ansätze 3. Emotionen und Gefühle 4. Begabungsfördernde Schulen 5. Die LehrerInnenbildung ist gefordert
Warum sind Gruppen von Menschen immer heterogen? Die homogene Schulklasse kann es nicht geben.
„Wahr“nehmung
Limitierende Faktoren für den „Zugang zur Welt“: Intensität der Stimulation Qualität der Sinnesorgane Interpretationsfähigkeit des Gehirns
Es gibt keine Information ohne Interpretation
Vererbung Förderung: Stimulation
Neue Erfahrungen verändern die Genexpression. Hüther (2008): Die Macht der inneren Bilder S. 59
Weitere Angaben: „Im strengen Sinn genetisch determiniert scheint die Persönlichkeit zu 40-50% zu sein; ca. 30-40% gehen auf das Konto von Prägungs- und Erlebnisprozessen im Alter zwischen 0 und 5 Jahren. Nur zu etwa 20% scheint die Persönlichkeitsstruktur durch spätere Erlebnisse und durch elterliche und schulische Erziehung beeinflusst zu werden.“ Roth (2001): Fühlen, Denken, Handeln. Suhrkamp S. 353
„Aktive Anlage-Umwelt-Korrelation“: Begabtere (intelligentere) Menschen suchen sich anregendere Umwelten (Berufe, Freunde, Hobbys), die ihrerseits die individuelle Begabung positiv beeinflussen. Auch „Mathäus- Effekt“ genannt: Wer hat, dem wird gegeben… Neubauer/Stern (2007): Lernen macht intelligent. DVA, 111
Neuropsychologie: Lernen führt zu unverwechselbaren Individuen Das Gehirn verändert sich beim Lernen physisch (Plastizität) Jeder Mensch hat seine eigene Lernbiografie. Die individuelle Hirnstruktur entspricht physisch der individuellen Lernbiografie.
Das Gehirn ist ein offenes, soziales Organ. Es ist auch Produkt der Lernbiografie, der Erziehung. Die Hirnentwicklung ist als ein sich selbst organisierender, durch Interaktionen mit der äusseren Welt gelenkter Prozess zu verstehen.
2. Begabungsentwicklung Neurobiologische Ansätze: a) Neuronal pruning b) Myelinisierung Neubauer/Fink: Basic Information Processing and the Psychophysiology of Intelligence. In: Sternberg/Pretz (Eds.) Cognition and Intelligence. New York : Cambridge University Press, 2005, 68-87
a) neuronal pruning Mit zunehmender Übung konsolidieren sich die Verknüpfungen und die Netzwerke werden kleiner, indem sie sich sparsamer verschalten. Subjektiv erleben wir dies daran, dass wir eine Aufgabe glatter und mit weniger Aufwand beherrschen. „neuronal pruning“ („beschneiden“)
Blakemore/Frith: Wie wir lernen. DVA (2006) S. 164
Prof. Robert Lynch kalil.anatomy.wisc. edu/pics/gcanim.gif
Das menschliche Gehirn verbraucht bei Erwachsenen ca Das menschliche Gehirn verbraucht bei Erwachsenen ca. 20 % aller umgesetzter Energie (kurz nach der Geburt über 60%). Es ist also extrem energie-aufwändig.
b) Myelinisierung Graue Materie: Zellkörper und Dendriten Weisse Materie: Myelinisierte Axone Schnürring
Ranvier Schnürringe Stephan Frings, Universität Heidelberg
Jay Giedd
Die Plastizität des Gehirns nimmt mit zunehmendem Alter ab, bleibt aber grundsätzlich bestehen Erwachsenenlernen: Kompensation der abnehmenden Plastizität durch mehr Wissen, schnellere Verbindungen, Lernstrategien, virtuoseren Gebrauch der „Klaviatur“, Erfahrung, soziales Beziehungsnetz...
Lernen in früher Jugend unterscheidet sich vom Lernen bei Erwachsenen darin, dass Erfahrungen und Lernprozesse im kindlichen Gehirn viel massivere und auch dauerhaftere Spuren hinterlassen als im erwachsenen Gehirn.
Die Erziehbarkeit hat relativ frühe Grenzen. Kein „Frühförderungs-Wahn“, aber: Die in der frühen Kindheit entstandenen und stabilisierten Grundzüge machen die Persönlichkeit „zunehmend immun gegen Umwelteinflüsse.“ G. Roth 2007, Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten, 222
„Das kritische Zeitfenster für eine günstige Lebensentwicklung scheint sich im Alter zwischen 42 und 54 Monaten zu schliessen.“ Markowitsch (2009) Tatort Gehirn. Zeitschrift für Neuropsychologie. Themenheft Forensik 3/09, 172
2.1 Fazit Gruppen von Menschen sind nie homogen. Heterogenität ist ein Naturprinzip. Begabungsunterschiede sind ein Produkt der individuellen Entwicklung auf der Basis der individuellen Erbanlagen von Menschen
Jahrgangsklassen mit gleicher Behandlung aller Kinder werden dem individuellen Stand der Entwicklung der Kinder nicht gerecht. Insbesondere nicht zu Beginn der Schulzeit. Gleichaltrige Schülerinnen und Schüler bringen nicht gleiche Lernvoraussetzungen mit.
3. Emotionen und Gefühle
3.1. Die Theorie von Damasio
Emotionen gehen Gefühlen voraus. Emotionen sind körperliche Reaktionen auf äussere Reize Antonio R. Damasio, 2003, Der Spinoza- Effekt List, München S. 39
Gefühle sind die individuelle Interpretation der körperlichen Reaktionen Antonio R. Damasio 2003, 101
„Emotionen treten auf der Bühne des Körpers auf, Gefühle auf der Bühne des Geistes“ Antonio R. Damasio 2003, 38
3.2 Das limbische System
Gerhard Roth, 2003 Limbus (lat.) = Saum
…“dass das limbische System, aber nicht das rationale System der Grosshirnrinde, einen direkten Zugriff auf diejenigen Systeme in unserem Gehirn hat, welche letztendlich unser Handeln bestimmen. Das limbische System hat gegenüber dem rationalen corticalen System das erste und das letzte Wort (…) Der Grund hierfür ist, dass alles, was Vernunft und Verstand als Ratschläge erteilen, für den, der die eigentliche Handlungsentscheidung trifft, emotional akzeptabel sein muss. Es gibt also ein rationales Abwägen (…) es gibt aber kein rationales Handeln. Am Ende eines noch so langen Prozesses des Abwägens steht immer ein emotionales Für oder Wider.“ G. Roth: Aus Sicht des Gehirns. Frankfurt am Main (2003) S. 162 M. Schmidt-Salomon: Jenseits von Gut und Böse. Pendo (2009), S. 130
Das limbische System kontrolliert die synaptischen Veränderungen. Musik stimuliert das limbische System.
„Musik ist Struktur gewordene Emotion“ Urs Widmer in: Heidenreich E.: Passione. Liebeserklärung an die Musik. München: Hanser (2009) S. 66
Wolfgang Amadeus Mozart COSI FAN TUTTE Schwarzkopf, Ludwig, Kraus, Taddei, Steffek, Berry Philharmonia Orchestra Karl Böhm 1962 (!)
George Benjamin (geboren 1960) Into the Little Hill (2006) Anu Komsi & Hilary Summers. Ensemble Modern. Franck Ollu
Bildung neuer Neuronen im Hippocampus Offenbar: Überleben abhängig von Stimulation
Starke Erlebnisse werden vom Gedächtnis anders behandelt als persönlich belanglosere. Sie werden fester und tiefer gespeichert.
„Man lernt nichts kennen, als was man liebt, und je tiefer und vollständiger die Kenntnis werden soll, desto stärker, kräftiger und lebendiger muss Liebe, ja Leidenschaft sein.“ Johann Wolfgang von Goethe: Brief an Friedrich Heinrich Jacobi vom 10. Mai 1812.
die Tendenz ‚Furcht vor Misserfolg“ überwiegt.“ „Ein aktuelles leistungsmotiviertes Handeln findet besonders dann statt, wenn die Tendenz ‚Hoffnung auf Erfolg‘ die Tendenz ‚Furcht vor Misserfolg“ überwiegt.“ Walter Edelmann: Lernpsychologie Beltz 2000 S. 254
4. Begabungsfördernde Schulen
Erkennungsmerkmale einer begabungsfördernden Schule (Ausschnitt): (1) Die Schulleitung steht hinter dem Anliegen der Begabungsförderung und wird von der „Politik“ gestützt. Das LehrerInnen- Team hat sich nach intensiver Diskussion für Begabungsförderung entschieden. Begabungsförderung ist als pädagogisches Thema in der Schule präsent und wird als pädagogische Haltung (Fördern steht im Zentrum) gelebt. Lehrpersonen bilden sich auf dem Gebiet weiter. Mindestens eine Lehrperson hat sich zur Spezialistin ausgebildet.
Unterricht ist förderorientiert. Innere (2) Unterricht ist förderorientiert. Innere Differenzierung (Binnendifferenzierung) Die Leistungsbeurteilung ist förderorientiert. Die Eltern werden in die Fragen der Begabungsförderung einbezogen. Innerschulische und ausserschulische Förder- angebote sind realisiert. Nach: Bossard Wehrle Veronika. Diplomarbeit ECHA 2002, 14-20 In: Stadelmann (2006): Begabungsförderung und Schulentwicklung. Erkennungsmerkmale einer begabungsfördernden Schule. news&science, özbf Salzburg
Defizitorientierung der Schulen abbauen: Stärken betonen!
Die vier Beine der Schulentwicklung Organisations-entwicklung: Schulleitung, Leadership Pädagogische Entwicklung: „Schule als pädagogische Einheit“ Förderorien-tierung als gemeinsamer Wille Qualitäts-entwicklung: Selbstevalua-tion, Externe Evaluation, Systemeva-luation Kompetenzen-Delegation (politisch): „Teilautonome Schulen“
5. Die LehrerInnenbildung ist gefordert
Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH) Leitsätze (1) Lehrerinnen und Lehrer sind Fachleute für Lehren und Lernen Lehrerinnen und Lehrer stellen sich der Herausforderung von heterogenen Lerngruppen Zur Erfüllung ihres Berufsauftrags nehmen Lehrerinnen und Lehrer ihre Zuständigkeiten wahr Lehrerinnen und Lehrer arbeiten an einer geleiteten Schule und gestalten diese mit Lehrerinnen und Lehrer verfügen über eine Hochschul- Ausbildung, bilden sich weiter und gestalten ihre Laufbahn
(2) Lehrerinnen und Lehrer erfüllen ihre anspruchsvolle Aufgabe in verlässlichen Rahmenbedingungen, mit Freiräumen, unterstützenden Strukturen und mit angemessener Besoldung.
LehrerInnenbildung: Lehrpersonen müssen zu Expertinnen/Experten ihrer Fächer Expertinnen und Experten für Lernen und Fördern Expertinnen und Experten für Zusammenarbeit Führungspersönlichkeiten aktiven ProblemlöserInnen „reflective practitioners“ Personen, die Unsicherheit aushalten aus- und weitergebildet werden.