Rainer Bremer Die »Leichte Sprache« zwischen Anspruch auf Wirksamkeit und der Bildsamkeit junger Menschen Ein Beitrag zur Journée des Langues Bern,

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 Präsentation transkript:

Rainer Bremer Die »Leichte Sprache« zwischen Anspruch auf Wirksamkeit und der Bildsamkeit junger Menschen Ein Beitrag zur Journée des Langues Bern, am 17. November 2017

Das Grundproblem »Leichte Sprache« (LS) als Befreiung von »Schwerer Sprache«? Beispiele »Leichter Sprache« (LS): Sprachspiele. Der Unterschied zwischen »verständlich« und »verständig«.

»Leichte Sprache« als Befreiung von »Schwerer Sprache«? Das Adjektiv »leicht« ist im Begriff der LS positiv gemeint. Dadurch wird automatisch ein Gegenteil hervorgebracht, das dann »schwer« heißen müßte — schwere Sprache eben. Das ist ein Trick, der von einer Dramaturgie zu leben scheint. Der Trick lebt von einem binären Muster, entweder ist eine Sprache »leicht« oder »schwer«. Das ist jedoch konstruiert, denn man kann eine weitere Unterscheidung treffen »leicht« vs. »einfach«.

»Leichte Sprache« als Befreiung von »Schwerer Sprache«? Mit dem Gegensatz leicht vs. einfach kommt man viel weiter als mit dem binären Artefakt leicht vs. schwer Ich will demonstrieren, daß das Kriterium zur Beurteilung des Schwierigkeitsgrads von (gesprochenen) Texten nicht die Zahl der Wörter oder die Länge der Sätze oder die grammatikalische Konstruktion ist, sondern der »Sinn«.

»Leichte Sprache« als Befreiung von »Schwerer Sprache«? »Sinn« muß ein Sprecher konstruieren und ein Hörer rekonstruieren, d. h. verstehen. Dazu bedienen sich beide der Sprache. Das möchte ich an Beispielen sehr einfacher Sprache zeigen:

Sprachspiele »Was tun Sie«, wurde Herr K. gefragt, »wenn Sie einen Menschen lieben?« »Ich mache einen Entwurf von ihm«, sagte Herr K., »und sorge, daß er ihm ähnlich wird.« »Wer? Der Entwurf?« »Nein«, sagte Herr K., »der Mensch.« Brecht, Kalendergeschichten, S. 166. Versuche, Heft 12. Planung ersetzt den Zufall durch den Irrtum. Einstein Die Sprache ist der Leib des Denkens. Hegel Heute ist morgen gestern. Redensart

Unterschied zwischen »verständlich« und »verständig« Die Beispiele sind lesbar und verständlich. Beim Lesen fragt man sich allerdings: Was ist die Aussage? Warum sagt einer so etwas? Welchen Sinn hat es, so etwas zu sagen? Die Sprache ist einfacher zu lesen als das Geschriebene zu verstehen.

Unterschied zwischen »verständlich« und »verständig« Wer so etwas sagt oder aufschreibt, rechnet mit einem Hörer oder Sprecher, der den Sinn versteht. Wer den Sinn versteht, ist verständig.

Das Problem der »Bildsamkeit« Kultur und Wissenschaft beruhen auf Erkenntnissen und bringen ständig neue hervor, die von der Sprachgemeinschaft geteilt werden. Oder auch nicht: Kultur und Wissenschaft produzieren nicht automatisch Wahrheiten! Aber man muß ihre Erkenntnisse verstehen können, um zwischen wahren und falschen Aussagen zu unterscheiden! Wir erwarten also sinnvolle, verständliche Aussagen.

Das Problem der »Bildsamkeit« Die Sprachgemeinschaft verfügt über ein Wissen, das sich weiterentwickelt. Ihre Mitglieder entwickeln sich hinein, behaupten sich darin und scheiden irgendwann wieder aus — das ist der biologische Lauf der Dinge. Hier tritt nun ein Paradox auf.

Das Problem der »Bildsamkeit« Ein Philosoph hat dieses Paradox mit folgenden Worten ausgehegelt: Erkennenwollen aber, ehe man erkenne, ist ebenso ungereimt als der weise Vorsatz jenes Scholastikus, schwimmen zu lernen, ehe er sich ins Wasser wage. Im Zusammenhang mit »Bildsamkeit« heißt das: Weil wir bildsam sind, können wir als Nichtschwimmer in seichtes Wasser gehen; dort die Schwimmbewegungen lernen; und danach auch im tiefen Wasser schwimmen.

Das Problem der »Bildsamkeit« In unserer Kultur und Wissenschaft ist die Sprache das Wasser. Die Erkenntnisse aus Kultur und Wissenschaft sind »verständlich« Aber nicht jeder ist von Geburt an »verständig«. Verständig wird man erst durch die eigene gedankliche Erschließung des Verständlichen: Das Verständliche liegt in sprachlicher Form vor. In unserer Sprache versuchen wir, auch Unbekanntes zu erfassen und zu verstehen. Erklärungen in einer Lehrsprache helfen, aus dem Unbekannten ein Bekanntes zu machen, das wir sprachlich beherrschen.

Der falsche Anspruch »Leichter Sprache« Statt anzuerkennen, daß Sprache Sinn vermittelt und das nur kann, wenn sie ihn als verständlich voraussetzt, gibt sie vor, mittels eines in die Muttersprache selbst eingekapselten Sonderregelwerks »an sich« Verstehbarkeit zu erzeugen. Dies verkennt grundlegend den Zusammenhang zwischen Sprache, Sprecher und Gegenstand – es wird einfach alles auf die Sprache geschoben. Der Fehler zeigt sich in zweierlei Hinsicht, empirisch und funktional.

LeiSa Die Studie hat als Großergebnis gezeigt, daß der Einsatz von LS an der Fülle von Behinderungen, Benachteiligungen und Lernbeeinträchtigungen vorbei geht. Markante Regeln, wie den Genitiv zu vermeiden, ziehen nicht, weil die Probanden solche Schwierigkeiten gar nicht im unterstellten Umfang haben. Auf der Tagung kam es zu einem drolligen sprachlichen Zwischenfall: Ein Teilnehmer wollte vor dem Gebrauch der LS warnen und sagte »wir kommen in Teufels Küche«, worauf das Auditorium spontan übersetzte »wir kommen in dem Teufel seine Küche«.

LeiSa Durch die hohe Zahl der Fehleingriffe durch LS in die Regelsprache fühlen sich Maßnahmeteilnehmer vielfach diskriminiert, weil sie ihre sprachlichen Fähigkeiten in verletzender Weise unterbewertet sehen. LeiSa hat im Milieu der niedrigqualifizierten und prekären Berufsarbeit Untersuchungen durchgeführt. Man diese Fragestellung erweitern, indem man fragt, welche Wirkung LS auf reguläre Berufsbildungsverhältnisse hätte, etwa um schwache Schulabsolventen leichter zu integrieren. Dazu haben wir 2 Dinge herausgefunden:

Die sprachlichen Anforderungen in der Berufsbildung können immer nur nach den fachlich–sachlichen Anforderungen ausfallen und nicht nach der aktuellen Kapazität des Lernenden! Alles andere würde den bildungspolitischen und lehrpraktischen Rückfall in die Beistellehre bedeuten. Diese war die Praxis der Umgehung der Einsichtsfähigkeit der Lernenden und verhinderte damit deren Entwicklung, die eigentlich die letzte institutionell–bildungsstrukturell gegebene Möglichkeit darstellt, die Reifung eines Jugendlichen jenseits des Milieus schulischer Allgemeinbildung zu fördern. Der Verzicht auf eine berufsangemessene Sprachhandlungsfähigkeit zieht den Verzicht auf Sprachentwicklung als Bildung nach sich.

Die Integration in eine berufliche Praxisgemeinschaft geschieht vom Debütanten als dem weiterhin Lernenden bis zur beruflichen Professionalität, die jenen Experten ausmacht, von dem andere wiederum lernen können. Die Arbeit, in der ein Beruf konkret wird, ist in der gesamten Spanne seiner Ausübung gemäß den Funktionen einer Praxisgemeinschaft auf sprachliche Repräsentation ihrer Organisation, ihrer Werkzeuge und Gegenstände angewiesen. Die konstitutiven Funktionen des Lehrens und Lernens erheben die dazu notwendige Kommunikation über die terminologische Beherrschung der reinen Fachsprachen.

Schluß Nun kann man natürlich fragen, wie die Fälle zustande gekommen sind, in denen LS zu funktionieren scheint. Dafür habe ich eine fallgesättigte Erklärung: Nehmen wir an, eine neue Vorschrift bei der Kindergeldregelung soll alle dazugehörigen Ausnahmen in einen Paragraphen fassen. Man kann erwarten, daß es kompliziert wird. Zunächst werden Juristen sich an die Sache machen. Dann sollte eine Kommission die Formulierungen auf Verständlichkeit prüfen. Was passiert dann genau?

Schluß Die Kommission wird sich genau erklären lassen müssen, was in der neuen Verordnung steht! Es wird also folgendes passieren: Juristen, die für sich schreiben und sich prächtig verstehen, verwenden einen Referenzrahmen, den man teilen muß, um folgen zu können! Laien haben einen Referenzrahmen, in der Regel einen normal – oder hochsprachlichen. Allgemein könnte man von Rezipientenrahmen sprechen, gegenüber dem juristischen Produzentenrahmen. Bevor die LS überhaupt ins Spiel kommen kann, hat eine Transformation Produzentenrahmen  Rezipientenrahmen stattgefunden.

Schluß Daß zur vollendeten Schlichtung des neuen Textes Eingriffe im Sinne einfacher Sprache dazu kommen können, steht außer Frage. Jedoch: Die Ideologie der LS will nun durch ausformulierte und mittlerweile umfangreiche Regeln der puren Sprachgestaltung ein Textkonstrukt schaffen, das allein wegen der LS-Regelkonformität von jedermann verständlich geworden sein soll! Das ist eine schwere Täuschung! Der Beispielstext ist verstehbar geblieben, weil der Perspektivenwechsel von Produzenten zum Rezipienten den Sinn bewahrt hat – er ist verständlich geblieben und nicht erst durch die LS geworden! LeiSa hat gezeigt, daß letzteres überhaupt die Ausnahme bleibt!

Vielen Dank für Ihre verständnisvolle Aufmerksamkeit! Schlußwort Vielen Dank für Ihre verständnisvolle Aufmerksamkeit!