Prof. Dr. Karl-Heinz Göttert Hermeneutik Klassik
Hermeneutik im Mittelalter Thomas von Aquin hat in seiner Schrift Liber de causis formuliert: Was auch immer aufgenommen wird [recipitur], kann nur in der Weise des Empfängers aufgenommen werden. Der Kommentar dazu von Jauß: Er [Thomas von Aquin] vermittelt den Anspruch der Bibel, secundum dicentem deum [gemäß der Rede Gottes] zu sprechen, mit dem Mangel des endlichen Menschen, der die Wahrheit des Geoffenbarten nicht unmittelbar und vollkommen zu begreifen vermag. Um es etwas einfacher auszudrücken: Thomas von Aquin weist darauf hin, dass mit dem lesenden Nachvollzug (also in der Rezeption) kein automatisches Verstehen verbunden ist, im Gegenteil: Der Lesende liest, was er kennt. Dem aber entspricht es, dass der Text der Bibel erst sukzessiv seine volle Wahrheit enthüllt. Und tatsächlich findet sich schon bei Gregor dem Großen (Moralia in Job XX, I, 1) im Frühmittelalter die Formulierung: Die Heilige Schrift wächst mit all denen, die sie lesen. Im Hochmittelalter sagt Marie de France (wahrscheinlich nach dem spätantiken Grammatiker Priscian), daß die nach ihnen Kommenden klüger sein würden, denn sie [ihre Nachfolger] können den Wortlaut des Textes glossieren und damit seinen Sinn bereichern.
Friedrich Schleiermacher Zwei Ebenen der Textauslegung gelte es den Regeln der Kunst gemäß zu beachten: die grammatische, die den sprachlichen Kontext des Schriftzeugnisses aufschlüsselt, und die psychologische, die die Motive des Verfassers zu erschließen trachtet, und zwar in einem Maße, dass der Interpret den Autoren zuletzt besser versteht, als es dieser selbst vermocht hat. Mit dieser Erweiterung verliert die Hermeneutik ihre traditionelle Beziehung zu Texten als Wahrheitsvermittlern. Stattdessen werden diese als der Ausdruck der Psyche, des Lebens und der geschichtlichen Epoche des Verfassers begriffen, und das Verstehen wird gleichgesetzt mit einem Wiedererleben und Einleben in das Bewusstsein, das Leben und die geschichtliche Epoche, aus der die Texte entstammen. Bezogen auf die Bibelexegese, die Schleiermacher vorschwebte, vertrat er, dass die Autoren nur aus ihrer gesamten Lebenssituation heraus verstanden werden könnten. Die Hermeneutik wird zu einer allgemeinen Kunstlehre, sich in das Leben einzufühlen, das hinter einem gegebenen Geistesprodukt steht. Ein Interpret versucht, sich in das Denken des Autors hineinzuversetzen, um den schöpferischen Akt nachzuvollziehen und auf diese Weise den möglichen Sinn des Kunstwerkes aufzudecken. Diese Theorie des „Einlebens“, welche Schleiermacher Divination nennt, verbindet er mit einer allgemeinen metaphysischen Theorie, nach der Verfasser und Leser beide Ausdruck ein und desselben überindividuellen Lebens (des Geistes) sind, welches sich durch die Weltgeschichte entwickelt.
Wilhelm Dilthey 2.1 Grundlagen 2.1.1 Ablösung vom Naturalismus 2.1.2 Lebensphilosophie 2.2 Begründung der Geisteswissenschaften 2.2.1 Verstehen und Erklären 2.2.2 Hermeneutik 2.2.3 Psychologie 2.2.4 Objektiver Geist 2.2.5 Erleben, Ausdruck, Verstehen 2.3 Weltanschauungslehre 2.3.1 Nach dem Ende der Metaphysik 2.3.2 Philosophie der Philosophie 2.3.3 Typen der Weltanschauung
Lebensphilosophie „In den Adern des erkennenden Subjekts, das Locke, Hume und Kant konstruieren, rinnt nicht wirkliches Blut, sondern der verdünnte Saft von Vernunft als bloßer Denktätigkeit. Mich führte aber historische wie psychologische Beschäftigung mit dem ganzen Menschen dahin, diesen, in der Mannigfaltigkeit seiner Kräfte, dies wollend und fühlend vorstellende Wesen auch der Erklärung der Erkenntnis […] zugrunde zu legen.“[
Verstehen und Erklären Naturwissenschaften – Erklären Geisteswissenschaften – Verstehen Gegenstand ist die Natur. Sie kann nur untersucht und beobachtet werden. Über die Ursachen natürlicher Vorgänge werden Annahmen angestellt, ein Nacherleben ist nicht möglich. Sie hat die Erzeugnisse des menschlichen Geistes zum Gegenstand. Diese können, weil sie vom Menschen selbst hervorgebracht sind, verstanden werden. Vorgänge in der Natur werden als Spezialfall eines abstrakten allgemeinen Gesetzes aufgefasst. Gegenstände geisteswissenschaftlicher Untersuchung werden in ihrem konkreten Zusammenhang aufgefasst. Naturwissenschaftliches Begreifen ist seinem Untersuchungsobjekt gegenüber neutral und für die Persönlichkeitsentwicklung von geringerer Bedeutung. Das Verstehen fremden Daseins, vergangener Kulturen und Persönlichkeiten führt zu einer Umformung des Selbst. Fremde geistige Inhalte werden in die eigenen lebendig einbezogen.
Hermeneutik Allgemein versteht man unter Hermeneutik die Auslegung oder Interpretation der Lebenswirklichkeit in der Zeit (Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft). Die Erfassung der Lebenswirklichkeit wird über das Erleben, den Ausdruck und das Verstehen vermittelt (nach Dilthey). In der philosophischen Tradition besitzt die Hermeneutik (seit dem 19. Jhdt.) drei Funktionen: Fundierung einer spezifisch geisteswissenschaftlichen Methode (im Gegensatz zu den Naturwissenschaften) Betonung der Geschichtlichkeit des Menschen in seiner Lebenswelt Analyse der Bedingungen von (Lebens-) Äußerungen des Menschen (etwa Kunst) im Ganzen seines (Welt) Horizontes (Weltanschauung!)
Erleben, Erlebnis „Die Menschheit wäre, aufgefasst in Wahrnehmung und Erkennen, für uns eine physische Tatsache, und sie wäre als solche nur dem naturwissenschaftlichen Erkennen zugänglich. Als Gegenstand der Geisteswissenschaften entsteht sie aber nur, sofern menschliche Zustände erlebt werden, sofern sie in Lebensäußerungen zum Ausdruck gelangen und sofern diese Ausdrücke verstanden werden.“
Hans-Georg Gadamer Wahrheit und Methode „Wenn wir das Verstehen zum Gegenstand unserer Besinnung machen, so ist das Ziel nicht eine Kunstlehre des Verstehens, wie sie die herkömmliche philologische und theologische Hermeneutik sein wollte. Eine solche Kunstlehre würde verkennen, dass angesichts der Wahrheit dessen, was uns aus der Überlieferung anspricht, der Formalismus kunstvollen Könnens eine falsche Überlegenheit in Anspruch nähme.“„ „Ein Gespräch führen heißt, sich unter die Führung der Sache stellen, auf die die Gesprächspartner gerichtet sind. Ein Gespräch führen verlangt, den anderen nicht niederzuargumentieren, sondern im Gegenteil das sachliche Gewicht der anderen Meinung wirklich zu erwägen. […] Wer die ‚Kunst‘ des Fragens besitzt, ist einer, der sich gegen das Niedergehaltenwerden des Fragens durch die herrschende Meinung zu erwehren weiß.“
Jürgen Habermas Als wichtiger Vertreter der Kritischen Theorie hat sich auch der Soziologe und Philosoph Jürgen Habermas mit Gadamers Hermeneutik auseinandergesetzt. […] Habermas kritisierte vor allem, dass der dialogisch gewonnene hermeneutische Konsens im Sinne Gadamers auch Ausfluss einer ideologisch verschleierten Herrschaftsstruktur sein könne, die es aufzudecken gelte. Wie die Psychoanalyse das geeignete Instrumentarium zur Aufdeckung individueller Bewusstseinstrübung bereitstelle, so habe die Ideologiekritik falsches gesellschaftliches Bewusstsein sozialwissenschaftlich aufzuarbeiten.
Strukturalismus Strukturalismus ist ein Sammelbegriff für interdisziplinäre Methoden und Forschungsprogramme, die Strukturen und Beziehungsgefüge in den weitgehend unbewusst funktionierenden Mechanismen kultureller Symbolsysteme untersuchen. Strukturen organisieren formal und inhaltsleer die Wirklichkeit, sie sind gegenüber den einzelnen strukturierten Elementen und konkreten Subjekten unabhängig. Beispielsweise besteht ein Wort substanziell nicht als ein Zeichen, das etwas bedeutet, sondern durch gegensätzliche Beziehungen zu anderen Elementen der Sprache; es soll anstelle einzelner Äußerungen die Struktur der Sprache untersucht werden.
Klassik: Goethe Sturm und Drang Willkommen und Abschied. 1771 Götz von Berlichingen. 1773 Werther. 1774
Willkommen und Abschied Es schlug mein Herz. Geschwind, zu Pferde! Und fort, wild wie ein Held zur Schlacht. Der Abend wiegte schon die Erde, Und an den Bergen hing die Nacht. Schon stund im Nebelkleid die Eiche Wie ein getürmter Riese da, Wo Finsternis aus dem Gesträuche Mit hundert schwarzen Augen sah. Der Mond von einem Wolkenhügel Sah schläfrig aus dem Duft hervor, Die Winde schwangen leise Flügel, Umsausten schauerlich mein Ohr. Die Nacht schuf tausend Ungeheuer, Doch tausendfacher war mein Mut, Mein Geist war ein verzehrend Feuer, Mein ganzes Herz zerfloß in Glut. Ich sah dich, und die milde Freude Floß aus dem süßen Blick auf mich. Ganz war mein Herz an deiner Seite, Und jeder Atemzug für dich. Ein rosenfarbnes Frühlingswetter Lag auf dem lieblichen Gesicht Und Zärtlichkeit für mich, ihr Götter, Ich hofft’ es, ich verdient’ es nicht. Der Abschied, wie bedrängt, wie trübe! Aus deinen Blicken sprach dein Herz. In deinen Küssen welche Liebe, O welche Wonne, welcher Schmerz! Du gingst, ich stund und sah zur Erden Und sah dir nach mit nassem Blick. Und doch, welch Glück, geliebt zu werden, Und lieben, Götter, welch ein Glück!
Goethe: Götz von Berlichingen Erster Akt Schwarzenberg in Franken. Herberge Metzler, Sievers am Tische. Zwei Reitersknechte beim Feuer. Wirt. Sievers. Hänsel, noch ein Glas Branntwein, und meß christlich. Wirt. Du bist der Nimmersatt. Metzler (leise zu Sievers). Erzähl das noch einmal vom Berlichingen! Die Bamberger dort ärgern sich, sie möchten schwarz werden. Sievers. Bamberger? Was tun die hier? Metzler. Der Weislingen ist oben auf'm Schloß beim Herrn Grafen schon zwei Tage; dem haben sie das Gleit geben. Ich weiß nicht, wo er herkommt; sie warten auf ihn; er geht zurück nach Bamberg. Sievers. Wer ist der Weislingen? Metzler. Des Bischofs rechte Hand, ein gewaltiger Herr, der dem Götz auch auf'n Dienst lauert. Sievers. Er mag sich in acht nehmen. Metzler (leise). Nur immer zu! (Laut.) Seit wann hat denn der Götz wieder Händel mit dem Bischof von Bamberg? Es hieß ja, alles wäre vertragen und geschlichtet. Sievers. Ja, vertrag du mit den Pfaffen! Wie der Bischof sah, er richt nichts aus und zieht immer den kürzern, kroch er zum Kreuz und war geschäftig, daß der Vergleich zustand käm. Und der getreuherzige Berlichingen gab unerhört nach, wie er immer tut, wenn er im Vorteil ist.
Goethe: Werther Am 4. Mai 1771 Wie froh bin ich, daß ich weg bin! Bester Freund, was ist das Herz des Menschen! Dich zu verlassen, den ich so liebe, von dem ich unzertrennlich war, und froh zu sein! Ich weiß, du verzeihst mir's. Waren nicht meine übrigen Verbindungen recht ausgesucht vom Schicksal, um ein Herz wie das meine zu ängstigen? Die arme Leonore! Und doch war ich unschuldig. Konnt' ich dafür, daß, während die eigensinnigen Reize ihrer Schwester mir eine angenehme Unterhaltung verschafften, daß eine Leidenschaft in dem armen Herzen sich bildete? Und doch – bin ich ganz unschuldig? Hab' ich nicht ihre Empfindungen genährt? Hab' ich mich nicht an den ganz wahren Ausdrücken der Natur, die uns so oft zu lachen machten, so wenig lächerlich sie waren, selbst ergetzt? Hab' ich nicht – o was ist der Mensch, daß er über sich klagen darf! Ich will, lieber Freund, ich verspreche dir's, ich will mich bessern, will nicht mehr ein bißchen Übel, das uns das Schicksal vorlegt, wiederkäuen, wie ich's immer getan habe; ich will das Gegenwärtige genießen, und das Vergangene soll mir vergangen sein. Gewiß, du hast recht, Bester, der Schmerzen wären minder unter den Menschen, wenn sie nicht – Gott weiß, warum sie so gemacht sind! – mit so viel Emsigkeit der Einbildungskraft sich beschäftigten, die Erinnerungen des vergangenen Übels zurückzurufen, eher als eine gleichgültige Gegenwart zu ertragen.
Goethe: Iphigenie auf Tauris Iphigenie: Heraus in eure Schatten, rege Wipfel Des alten, heil'gen, dichtbelaubten Haines, Wie in der Göttin stilles Heiligtum, Tret ich noch jetzt mit schauderndem Gefühl, Als wenn ich sie zum erstenmal beträte, Und es gewöhnt sich nicht mein Geist hierher. So manches Jahr bewahrt mich hier verborgen Ein hoher Wille, dem ich mich ergebe; Doch immer bin ich, wie im ersten, fremd. Denn ach! mich trennt das Meer von den Geliebten, Und an dem Ufer steh ich lange Tage, Das Land der Griechen mit der Seele suchend; Und gegen meine Seufzer bringt die Welle Nur dumpfe Töne brausend mir herüber. Weh dem, der fern von Eltern und Geschwistern Ein einsam Leben führt! Ihm zehrt der Gram Das nächste Glück vor seinen Lippen weg, Ihm schwärmen abwärts immer die Gedanken Nach seines Vaters Hallen, wo die Sonne Zuerst den Himmel vor ihm aufschloß, wo Sich Mitgeborne spielend fest und fester Mit sanften Banden aneinanderknüpften. Ich rechte mit den Göttern nicht; allein Der Frauen Zustand ist beklagenswert. Zu Haus und in dem Kriege herrscht der Mann, Und in der Fremde weiß er sich zu helfen. Ihn freuet der Besitz; ihn krönt der Sieg!
Forts. Ein ehrenvoller Tod ist ihm bereitet. Wie eng-gebunden ist des Weibes Glück! Schon einem rauhen Gatten zu gehorchen Ist Pflicht und Trost; wie elend, wenn sie gar Ein feindlich Schicksal in die Ferne treibt! So hält mich Thoas hier, ein edler Mann, In ernsten, heil'gen Sklavenbanden fest. O wie beschämt gesteh ich, daß ich dir Mit stillem Widerwillen diene, Göttin, Dir, meiner Retterin! Mein Leben sollte Zu freiem Dienste dir gewidmet sein. Auch hab ich stets auf dich gehofft und hoffe Noch jetzt auf dich, Diana, die du mich, Des größten Königes verstoßne Tochter, In deinen heil'gen, sanften Arm genommen. Ja, Tochter Zeus', wenn du den hohen Mann, Den du, die Tochter fordernd, ängstigtest, Wenn du den göttergleichen Agamemnon, Der dir sein Liebstes zum Altare brachte, Von Trojas umgewandten Mauern rühmlich Nach seinem Vaterland zurückbegleitet, Die Gattin ihm, Elektren und den Sohn, Die schonen Schätze, wohl erhalten hast: So gib auch mich den Meinen endlich wieder, Und rette mich, die du vom Tod errettet, Auch von dem Leben hier, dem zweiten Tode!
Forts. Thoas: So geht! Iphigenie: Nicht so, mein König! Ohne Segen, In Widerwillen scheid ich nicht von dir. Verbann uns nicht! Ein freundlich Gastrecht walte Von dir zu uns: so sind wir nicht auf ewig Getrennt und abgeschieden. Wert und teuer, Wie mir mein Vater war, so bist du's mir, Und dieser Eindruck bleibt in meiner Seele. Bringt der Geringste deines Volkes je Den Ton der Stimme mir ins Ohr zurück, Den ich an euch gewohnt zu hören bin, Und seh ich an dem Ärmsten eure Tracht: Empfangen will ich ihn wie einen Gott, Ich will ihm selbst ein Lager zubereiten, Auf einen Stuhl ihn an das Feuer laden Und nur nach dir und deinem Schicksal fragen. O geben dir die Götter deiner Taten Und deiner Milde wohlverdienten Lohn! Leb wohl! O wende dich zu uns und gib Ein holdes Wort des Abschieds mir zurück! Dann schwellt der Wind die Segel sanfter an, Und Tränen fließen lindernder vom Auge Des Scheidenden. Leb wohl! und reiche mir Zum Pfand der alten Freundschaft deine Rechte. Thoas: Lebt wohl!
Goethe: Die Metamorphose der Pflanzen Dich verwirret, Geliebte, die tausendfältige Mischung Dieses Blumengewühls über dem Garten umher; Viele Namen hörest du an, und immer verdränget Mit barbarischem Klang einer den andern im Ohr. Alle Gestalten sind ähnlich, und keine gleichet der andern; Und so deutet das Chor auf ein geheimes Gesetz, Auf ein heiliges Rätsel. O könnt ich dir, liebliche Freundin, Überliefern sogleich glücklich das lösende Wort! – Werdend betrachte sie nun, wie nach und nach sich die Pflanze, Stufenweise geführt, bildet zu Blüten und Frucht. Aus dem Samen entwickelt sie sich, sobald ihn der Erde Stille befruchtender Schoß hold in das Leben entläßt Und dem Reize des Lichts, des heiligen, ewig bewegten, Gleich den zartesten Bau keimender Blätter empfiehlt. Einfach schlief in dem Samen die Kraft; ein beginnendes Vorbild Lag, verschlossen in sich, unter die Hülle gebeugt, Blatt und Wurzel und Keim, nur halb geformet und farblos; Trocken erhält so der Kern ruhiges Leben bewahrt, Quillet strebend empor, sich milder Feuchte vertrauend, Und erhebt sich sogleich aus der umgebenden Nacht. Aber einfach bleibt die Gestalt, der ersten Erscheinung, Und so bezeichnet sich auch unter den Pflanzen das Kind. Gleich darauf ein folgender Trieb, sich erhebend, erneuere Knoten auf Knoten getürmt, immer das erste Gebild. Zwar nicht immer das gleiche; denn mannigfaltig erzeugt sich, Ausgebildet, du siehsts, immer das folgende Blatt, Ausgedehnter, gekerbter, getrennter in Spitzen und Teile, Die verwachsen vorher ruhten im untern Organ. Und so erreicht es zuerst die höchst bestimmte Vollendung, Die bei manchem Geschlecht dich zum Erstaunen bewegt.
Friedrich Schiller Die Räuber. 1781 Kabale und Liebe. 1784 Don Carlos. 1783-87 Über Anmut und Würde. 1793 Über die ästhetische Erziehung des Menschen. 1795 Über naive und sentimentalische Dichtung 1795 Maria Stuart. 1800 Wilhelm Tell. 1803/04
Schiller: Die Räuber Moor. Da verrammeln sie sich die gesunde Natur mit abgeschmackten Conventionen, haben das Herz nicht, ein Glas zu leeren, weil sie Gesundheit dazu trinken müssen – belecken den Schuhputzer, daß er sie vertrete bei Ihro Gnaden, und hudeln den armen Schelm, den sie nicht fürchten. Vergöttern sich um ein Mittagessen, und möchten einander vergiften um ein Unterbett, das ihnen beim Aufstreich überboten wird. – Verdammen den Sadducäer, der nicht fleißig genug in die Kirche kommt, und berechnen ihren Judenzins am Altare – fallen auf die Knie, damit sie ja ihren Schlamp ausbreiten können, – wenden kein Aug' von dem Pfarrer, damit sie sehen, wie seine Perrücke frisiert ist. – Fallen in Ohnmacht, wenn sie eine Gans bluten sehen, und klatschen in die Hände, wenn ihr Nebenbuhler bankerott von der Börse geht – – So warm ich ihnen die Hand drückte – »nur noch einen Tag« – Umsonst! – Ins Loch mit dem Hund! – Bitten! Schwüre! Thränen! (Auf den Boden stampfend.) Hölle und Teufel! Spiegelberg. Und um so ein paar tausend lausige Ducaten – Moor. Nein, ich mag nicht daran denken! Ich soll meinen Leib pressen in eine Schnürbrust und meinen Willen schnüren in Gesetzt. Das Gesetz hat zum Schneckengang verdorben, was Adlerflug geworden wäre. Das Gesetz hat noch keinen großen Mann gebildet, aber die Freiheit brütet Kolosse und Extremitäten aus. Sie verpalissadieren sich ins Bauchfell eines Tyrannen, hofieren der Laune seines Magens und lassen sich klemmen von seinen Winden. – Ah! daß der Geist Hermanns noch in der Asche glimmte! – Stelle mich vor ein Heer Kerls wie ich, und aus Deutschland soll eine Republik werden, gegen die Rom und Sparta Nonnenklöster sein sollen. (Er wirft den Degen auf den Tisch und steht auf.)
Schiller: Don Carlos Marquis (mit Feuer). Ja, beim Allmächtigen! Ja – ja – ich wiederhol' es. Geben Sie, Was Sie uns nahmen, wieder! Lassen Sie Großmütig, wie der Starke, Menschenglück Aus Ihrem Füllhorn strömen – Geister reifen In Ihrem Weltgebäude! Geben Sie, Was Sie uns nahmen, wieder. Werden Sie Von Millionen Königen ein König. (Er nähert sich ihm kühn, und indem er feste und feurige Blicke auf ihn richtet.) O, könnte die Beredsamkeit von allen Den Tausenden, die dieser großen Stunde Teilhaftig sind, auf meinen Lippen schweben, Den Strahl, den ich in diesen Augen merke, Zur Flamme zu erheben! Geben Sie Die unnatürliche Vergöttrung auf, Die uns vernichtet! Werden Sie uns Muster Des Ewigen und Wahren! Niemals – niemals Besaß ein Sterblicher so viel, so göttlich Es zu gebrauchen. Alle Könige Europens huldigen dem spanischen Namen. Gehn Sie Europens Königen voran. Ein Federzug von dieser Hand, und neu Erschaffen wird die Erde. Geben Sie Gedankenfreiheit. – (Sich ihm zu Füßen werfend.) König (überrascht, das Gesicht weggewandt und dann wieder au den Marquis geheftet). Sonderbarer Schwärmer! Doch – steht auf – ich –
Schiller: Maria Stuart Maria. Regiert in Frieden! Jedwedem Anspruch auf dies Reich entsag ich. Ach, meines Geistes Schwingen sind gelähmt, Nicht Größe lockt mich mehr – Ihr habt's erreicht, Ich bin nur noch der Schatten der Maria. Gebrochen ist in langer Kerkerschmach Der edle Mut – Ihr habt das Äußerste an mir Getan, habt mich zerstört in meiner Blüte! – Jetzt macht ein Ende, Schwester. Sprecht es aus, Das Wort, um dessentwillen Ihr gekommen, Denn nimmer will ich glauben, dass Ihr kamt, Um Euer Opfer grausam zu verhöhnen. Sprecht dieses Wort aus. Sagt mir: "Ihr seid frei, Maria! Mein Macht habt Ihr gefühlt, Jetzt lernet meinen Edelmut verehren." Sagt's, und ich will mein Leben, meine Freiheit Als ein Geschenk aus Eurer Hand empfangen. – Ein Wort macht alles ungeschehn.Ich warte Darauf. O lasst mich's nicht zu lang erharren! Weh Euch, wenn Ihr mit diesem Wort nicht endet! Denn wenn Ihr jetzt nicht segenbringend, herrlich, Wie eine Gottheit von mir scheidet – Schwester! Nicht um dies ganze reiche Eiland, nicht Um alle Länder, die das Meer umfasst, Möcht' ich vor Euch so stehn, wie Ihr vor mir!
Schiller: Wilhelm Tell Walther nach einigem Besinnen: Gibt's Länder, Vater, wo nicht Berge sind? Tell: Wenn man hinuntersteigt von unsern Höhen, Und immer tiefer steigt, den Strömen nach, Gelangt man in ein grosses ebnes Land, Wo die Waldwasser nicht mehr brausend schäumen, Die Flüsse ruhig und gemächlich ziehn, Da sieht man frei nach allen Himmelsräumen, Das Korn wächst dort in langen schönen Auen, Und wie ein Garten ist das Land zu schauen. Walther: Ei Vater, warum steigen wir denn nicht Geschwind hinab in dieses schöne Land, Statt dass wir uns hier ängstigen und plagen? Tell: Das Land ist schön und gütig wie der Himmel, Doch die's bebauen, sie geniessen nicht Den Segen, den sie pflanzen. Walther: Wohnen sie Nicht frei wie du auf ihrem eignen Erbe? Tell: Das Feld gehört dem Bischof und dem König.
Schiller: Über Anmut und Würde So wie die Anmut der Ausdruck einer schönen Seele ist, so ist Würde der Ausdruck einer erhabenen Gesinnung. Es ist dem Menschen zwar aufgegeben, eine innige Übereinstimmung zwischen seinen beiden Naturen zu stiften, immer ein harmonierendes Ganze zu sein und mit seiner vollstimmigen ganzen Menschheit zu handeln. Aber diese Charakterschönheit, die reifste Frucht seiner Humanität, ist bloß eine Idee, welcher gemäß zu werden er mit anhaltender Wachsamkeit streben, aber die er bei aller Anstrengung nie ganz erreichen kann. Die Gesetzgebung der Natur hat Bestand bis zum Willen, wo sie sich endigt und die vernünftige anfängt. Der Wille steht hier zwischen beiden Gerichtsbarkeiten, und es kommt ganz auf ihn selbst an, von welcher er das Gesetz empfangen will… Als Naturkraft ist er gegen die eine, wie gegen die andere, frei; das heißt, er muss sich weder zu dieser noch zu jener schlagen. Er ist aber nicht frei als moralische Kraft, das heißt, er soll sich zu der vernünftigen schlagen. Gebunden ist er an keine, aber verbunden ist er dem Gesetz der Vernunft. Er gebraucht also seine Freiheit wirklich, wenn er gleich der Vernunft widersprechend handelt; aber er gebraucht sie unwürdig, weil er ungeachtet seiner Freiheit doch nur innerhalb der Natur stehenbleibt und zu der Operation des bloßen Triebes gar keine Realität hinzutut…
Forts. Die Gesetzgebung der Natur durch den Trieb kann mit der Gesetzgebung der Vernunft aus Principien in Streit gerathen, wenn der Trieb zu seiner Befriedigung eine Handlung fordert, die dem moralischen Grundsatz zuwiderläuft. In diesem Fall ist es unwandelbare Pflicht für den Willen, die Forderung der Natur dem Ausspruch der Vernunft nachzusetzen, da Naturgesetze nur bedingungsweise, Vernunftgesetze aber schlechterdings und unbedingt verbinden. Die schöne Seele muß sich also im Affekt in eine erhabene verwandeln, und das ist der untrügliche Probierstein, wodurch man sie von dem guten Herzen oder der Temperamentstugend unterscheiden kann. Ist bei einem Menschen die Neigung nur darum auf Seiten der Gerechtigkeit, weil die Gerechtigkeit sich glücklicher Weise auf Seiten der Neigung befindet, so wird der Naturtrieb im Affekt eine vollkommene Zwangsgewalt über den Willen ausüben, und wo ein Opfer nöthig ist, so wird es die Sittlichkeit und nicht die Sinnlichkeit bringen. War es hingegen die Vernunft selbst, die, wie bei einem schönen Charakter der Fall ist, die Neigungen in Pflicht nahm und der Sinnlichkeit das Steuer nur anvertraute, so wird sie es in demselben Moment zurücknehmen, als der Trieb seine Vollmacht mißbrauchen will. Die Temperamentstugend sinkt also im Affekt zum bloßen Naturprodukt herab; die schöne Seele geht ins Heroische über und erhebt sich zur reinen Intelligenz. Beherrschung der Triebe durch die moralische Kraft ist Geistesfreiheit, und Würde heißt ihr Ausdruck in der Erscheinung.
Forts. den gebieterischen Trieb zu behaupten, der ohne ihn zu Handlungen schreitet und sich seinem Joch gern entziehen möchte. Bei der Anmuth hingegen regiert er mit Liberalität, weil er es hier ist, der die Natur in Handlung setzt und keinen Widerstand zu besiegen findet. Nachsicht verdient aber nur der Gehorsam, und Strenge kann nur die Widersetzung rechtfertigen. Anmuth liegt also in der Freiheit der willkürlichen Bewegungen; Würde in der Beherrschung der unwillkürlichen. Die Anmuth läßt der Natur, da wo sie die Befehle des Geistes ausrichtet, einen Schein von Freiwilligkeit; die Würde hingegen unterwirft sie da, wo sie herrschen will, dem Geist. Ueberall, wo der Trieb anfängt zu handeln und sich herausnimmt, in das Amt des Willens zu greifen, da darf der Wille keine Indulgenz, sondern muß durch den nachdrücklichsten Widerstand seine Selbständigkeit (Autonomie) beweisen. Wo hingegen der Wille anfängt und die Sinnlichkeit ihm folgt, da darf er keine Strenge, sondern muß Indulgenz beweisen. Dies ist mit wenigen Worten das Gesetz für das Verhältniß beider Naturen im Menschen, so wie es in der Erscheinung sich darstellt. Würde wird daher mehr im Leiden (παθος), Anmuth mehr im Betragen (ηθος) gefordert und gezeigt; denn nur im Leiden kann sich die Freiheit des Gemüths, und nur im Handeln die Freiheit des Körpers offenbaren.
Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen 10. Brief Aber vielleicht ist die Erfahrung der Richterstuhl nicht, vor welchem sich eine Frage wie diese ausmachen läßt… Dieser reine Vernunftbegriff der Schönheit, wenn ein solcher sich aufzeigen ließe, müsste also – weil er aus keinem wirklichen Falle geschöpft werden kann, vielmehr unser Urteil über jeden wirklichen Fall erst berichtigt und leitet – auf dem Wege der Abstraktion gesucht und schon aus der Möglichkeit der sinnlich vergünstigen Natur gefolgert werden können; mit einem Wort: die Schönheit müsste sich als eine notwendige Bedingung der Menschheit aufzeigen lassen.
Forts. 23. Brief Mit einem Wort: es gibt keinen andern Weg, den sinnlichen Menschen vernünftig zu machen, als dass man denselben zuvor ästhetisch macht. Durch die ästhetische Gemütsstimmung wird also die Selbsttätigkeit der Vernunft schon auf dem Felde der Sinnlichkeit eröffnet, die Macht der Empfindung schon innerhalb ihrer eigenen Grenzen gebrochen und der physische Mensch so weit veredelt, dass nunmehr der geistige sich nach Gesetzen der Freiheit auf demselben bloß zu entwickeln braucht. Der Schritt von dem ästhetischen Zustand zu dem logischen und moralischen (von der Schönheit zur Wahrheit und zur Pflicht) ist daher unendlich leichter, als der Schritt von dem physischen Zustande zu dem ästhetischen (von dem bloßen blinden Leben zur Form) war. Jenen Schritt kann der Mensch durch seine bloße Freiheit vollbringen, da er sich bloß zu nehmen, und nicht zu geben, bloß seine Natur zu vereinzeln, nicht zu erweitern braucht; der ästhetisch gestimmte Mensch wird allgemein gültig urteilen und allgemein gültig handeln, sobald er es wollen wird.
Forts. 24. Brief Der Mensch in seinem physischen Zustand erleidet bloß die Macht der Natur; er entledigt sich dieser Macht in dem ästhetischen Zustand, und er beherrscht sie in dem moralischen. Was ist der Mensch, ehe die Schönheit die freie Lust ihm entlockt und die ruhige Form das wilde Leben besänftigt? Ewig einförmig in seinen Zwecken, ewig wechselnd in seinen Urteilen, selbstsüchtig, ohne er selbst zu sein, ungebunden, ohne frei zu sein, Sklave, ohne einer Regel zu dienen. In dieser Epoche ist ihm die Welt bloß Schicksal, noch nicht Gegenstand; alles hat nur Existenz für ihn, insofern es ihm Existenz verschafft; was ihm weder gibt noch nimmt, ist ihm gar nicht vorhanden. Mit seiner Menschenwürde unbekannt, ist er weit entfernt, sie in Andern zu ehren, und der eigenen wilden Gier sich bewusst, fürchtet er sie in jedem Geschöpf, das ihm ähnlich sieht. Nie erblickt er Andre in sich, nur sich in Andern, und die Gesellschaft, anstatt ihn zur Gattung auszudehnen, schließt ihn nur enger und enger in sein Individuum ein.
Forts. 26. Brief Insofern also das Bedürfnis der Realität und die Anhänglichkeit an das Wirkliche bloße Folgen des Mangels sind, ist die Gleichgültigkeit gegen Realität und das Interesse am Schein eine wahre Erweiterung der Menschheit und ein entschiedener Schritt zur Kultur. Auf die Frage: »Inwieweit darf Schein in der moralischen Welt sein?« ist also die Antwort so kurz als bündig diese: Insoweit es ästhetischer Schein ist, d. h. Schein, der weder Realität vertreten will, noch von derselben vertreten zu werden braucht. Der ästhetische Schein kann der Wahrheit der Sitten niemals gefährlich werden, und wo man es anders findet, da wird sich ohne Schwierigkeit zeigen lassen, daß der Schein nicht ästhetisch war. Nur ein Fremdling im schönen Umgang z. B. wird Versicherungen der Höflichkeit, die eine allgemeine Form ist, als Merkmale persönlicher Zuneigung aufnehmen und, wenn er getäuscht wird, über Verstellung klagen. Aber auch nur ein Stümper im schönen Umgang wird, um höflich zu sein, die Falschheit zu Hilfe rufen und schmeicheln, um gefällig zu sein. Dem Ersten fehlt noch der Sinn für den selbständigen Schein, daher kann er demselben nur durch die Wahrheit Bedeutung geben; dem Zweiten fehlt es an Realität, und er möchte sie gern durch den Schein ersetzen.