Europäische Binnenwanderung, Aus- und Rückwanderung im 19. Jahrhundert

Slides:



Advertisements
Ähnliche Präsentationen
BAU 2011 Europas Bauwirtschaft nach der Krise – wie geht es weiter?
Advertisements

Vorlesung: 1 Betriebliche Informationssysteme 2003 Prof. Dr. G. Hellberg Studiengang Informatik FHDW Vorlesung: Betriebliche Informationssysteme Teil3.
Normalverteilte Zufallsvariablen
Segregation in einer westdeutschen Stadt
Informationsintegration Global-as-View: GaV
Das Finanzpolitik Quiz
Die Deutschen im Herbst 2008
Gewerkschaftliche Organisation
Bevölkerungsentwicklung in den USA
Internet facts 2006-I Graphiken zu dem Berichtsband AGOF e.V. September 2006.
Internet facts 2009-IV Grafiken zu dem Berichtsband AGOF e.V. März 2010.
Internet facts 2006-III Graphiken zum Berichtsband AGOF e.V. März 2007.
Internet facts 2008-II Graphiken zu dem Berichtsband AGOF e.V. September 2008.
Internet facts 2006-II Graphiken zu dem Berichtsband AGOF e.V. November 2006.
Vorlesung: 1 Betriebliche Informationssysteme 2003 Prof. Dr. G. Hellberg Studiengang Informatik FHDW Vorlesung: Betriebliche Informationssysteme Teil2.
Prof. Dr. Bernhard Wasmayr
Prof. Dr. Bernhard Wasmayr VWL 2. Semester
Wer ist ein Einwanderer?
AWA 2007 Natur und Umwelt Natürlich Leben
Internet für Alle – zwischen Euphorie und Ignoranz
Kapitel 1: Eine Einführung Kapitel 1 Einführung Einleitung
Dummy-Variablen Gleicher Lohn bei gleicher Qualifikation: Frauen verdienen im Durchschnitt zwar weniger als Männer, aber ist die Ursache dafür in der Diskriminierung.
Die Ursachen der makroökonomischen Ungleichgewichte in der Eurozone und die wirtschaftspolitischen Konsequenzen Referat zur Tagung der Akademie für Politische.
Sozialpolitik in Europa und das europäische Sozialmodell
20:00.
Eidgenössisches Departement des Innern EDI Bundesamt für Statistik BFS 2. Demografie Dialog Schweiz Demografische Entwicklung und Siedlungspolitik Die.
Über das langfristige Wachstum der Weltwirtschaft
DISPARITÄTEN Disparität = räumliche Ungleichheit innerhalb einer Volkswirtschaft, „unausgeglichene Raumstruktur“ Ebenen: ökonomisch, sozial, kulturell,
Das Finanzpolitik Quiz Humboldt-Universität zu Berlin Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät Institut für Wirtschaftspolitik I Makroökonomie, Geld und Kapitalmärkte.
Arbeitsmarkt und prekäre Arbeitsverhältnisse
Staatlich geförderte Altersvorsorge
Eine Einführung in die CD-ROM
Dokumentation der Umfrage
Kapitel 1 Einleitung Originale (englisch) von Iordanis Petsas
Where Europe does business Lück, JDZB | Seite © GfW NRW 252 a.
1. FIW Workshop – Thema: „EU-Erweiterung und österreichischer
SPSS für Windows Auswertung von Marktforschungsdaten mit SPSS für Windows WINDER Thomas Porzellangasse 32, 1090 Wien.
Wir üben die Malsätzchen
Statistik: Mehr zur Regression.
Aufgabe 6: Woher kommen Migranten, wohin gehen sie
Generationen im Gespräch
14. Dezember 2004 Fachabteilung 1C – Landesstatistik Regionale Bevölkerungsentwicklung in der Steiermark BH-Konferenz 14. Dezember 2004.
Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement EJPD Bundesamt für Migration BFM Diaspora-Studie Die kosovarische Bevölkerung in der Schweiz.
Deutschland in Europa -
Bevölkerungsentwicklung und –struktur der Stadt Bozen und ihrer Stadtviertel 21. Mai 2009 Amt für Statistik und Zeiten der Stadt.
Ertragsteuern, 5. Auflage Christiana Djanani, Gernot Brähler, Christian Lösel, Andreas Krenzin © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 2012.
Mächtigster Konkurrent der Wirtschaft
Erwerbstätigkeit:Frauen holen auf Der Anteil der erwerbstätigen Frauen wird in den nächsten Jahren stark wachsen: von 11,1 Millionen 1995 auf 12,1 Millionen.
MINDREADER Ein magisch - interaktives Erlebnis mit ENZO PAOLO
Bevölkerungsentwicklung und –struktur der Stadt Bozen
Bevölkerungsentwicklung und –struktur der Stadt Bozen
Arbeitsmarkt und Personenfreizügigkeit Was sind die ökonomischen Folgen? George Sheldon Forschungsstelle für Arbeitsmarkt- und Industrieökonomik, Universität.
Thema: Demographische Entwicklung im Vergleich Von: Felix Stohf
Folie Beispiel für eine Einzelauswertung der Gemeindedaten (fiktive Daten)
Umsatz55,353,63,1 Betriebsgewinn5,04,219,2 Prozent vom Umsatz9,17,9 Gewinn vor außerordentlichen Posten 4,94,314,4 Prozent vom Umsatz8,87,9 Gewinn des.
PERUANISCHER BERGBAU 2006.
25 Ideen für die Stadt Qualitative und quantita- tive Analyse der Aussagen der Bozner Bürgerinnen und Bürger Bozen, 24. August 2004.
Wie wird Gesundheit diagnostiziert und gemessen ?
Folie Einzelauswertung der Gemeindedaten
Definition von Armut und Reichtum
Schwimmen : Die Anzahl 2: Die Bestzeit.
Lotto: Wie tippen die Leute?
1 Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest KIM-Studie 2014 Landesanstalt für Kommunikation Baden-Württemberg (LFK) Landeszentrale für Medien und Kommunikation.
Monatsbericht Ausgleichsenergiemarkt Gas – November
Migration-Integration
Donnerstag, den 26. November
Deutschland ist wieder Einwanderungsland. Willkommen!
Binnenmigration und –mobilität in historischer Perspektive II: Pendelmobilität Seminar: Gesellschaft in Bewegung. Soziologische Analysen von räumlicher.
Industrielle Revolution im 19.Jhd
Migration A. Good Herzlich Willkommen! fluechtlinge-aus-seenot-gerettet Tagesschau vom Sonntag,
 Präsentation transkript:

Europäische Binnenwanderung, Aus- und Rückwanderung im 19. Jahrhundert Migration Europäische Binnenwanderung, Aus- und Rückwanderung im 19. Jahrhundert Prof. Dr. Nikolaus Wolf FU Berlin, WS 2005/ 06

Sind Europäer immobil? Vor der Euro-Einführung argumentierten viele Ökonomen, dass eine gemeinsame Währung in Europa mit möglicherweise hohen Kosten verbunden sei:  man könne das Politikinstrument einer flexiblen Wechselkurspolitik nicht opfern, solange die Europäer – anders als US-Amerikaner - so wenig bereit wären, auf Arbeitslosigkeit durch Migration zu reagieren (zB Olsen/ Skak 2001, siehe auch VL zum Goldstandard). Italiener und Briten reagieren auf Reallohnunterschiede innerhalb des eigenen Landes weniger mit Migration als US-Amerikaner (Eichengreen 1991) Warum? Sind Europäer „bodenständiger“? Oder fauler? Wie erfasse ich die Mobilität einer Bevölkerung? Und wie hat sich Mobilität in Europa historisch entwickelt? Prof. Dr. Nikolaus Wolf FU Berlin, WS 2005/ 06

Who cares? Freiwillige Migration ist zunächst ähnlich zum Handel: sie findet nur statt, weil die Lebensverhältnisse sich an Orten unterscheiden Sie ist aber viel interessanter als Handel: Migration kann Ursprungs- und Zielgebiete fundamental verändern, zum Beispiel weil: … Migranten Kultur, politische Ideen, neue Technologien, etc. mit bringen …Migranten kulturelle und ökonomische Brücken zwischen Ursprungs- und Zielgebieten (Kommunikations-, Handelsnetze, Geldtransfers) schaffen können …Migranten in der Regel die demographische Dynamik von Ursprungs- und Zielgebieten verändern …Migration oft mit räumlicher Konzentration (Urbanisierung) verbunden ist  fördert die „Verstädterung“ und Modernisierung Prof. Dr. Nikolaus Wolf FU Berlin, WS 2005/ 06

Der Plan Binnenmigration seit 1820 am Beispiel Deutschland Stadt-Land Überregional Grenzüberschreitende europäische Migration bis 1900 Die Europäische Emigration nach Amerika im 19. Jahrhundert: Verlauf Ursachen Hat Bismarck die deutsche Auswanderung gestoppt? Prof. Dr. Nikolaus Wolf FU Berlin, WS 2005/ 06

Binnenmigration seit 1820 (am Beispiel Deutschland) Europa vor der Industrialisierung war keineswegs immobil: sowohl innerhalb von Staaten, als auch über Staatsgrenzen hinweg, sowohl zwischen Städten, vom Land in die Stadt auch zwischen Dörfern fand Mobilität in bemerkenswertem Umfang statt, soweit wir darüber Daten haben (Moch 2003, Lucassen/ Soly 1993) Daten zu Süd- und Mittelengland 1660-1730 (nach P. Clark 1979): 63% aller Männer und 67% aller Frauen haben in ihrem Leben mindestens einmal dauerhaft ihren Wohnsitz gewechselt, die Dorfbevölkerung war nicht weniger mobil als die Stadtbevölkerung Aber im 19. Jahrhundert nahm die Mobilität der europäischen Bevölkerung dramatisch zu; nach dem 1. Weltkrieg ist die Mobilität allerdings wieder deutlich gesunken Prof. Dr. Nikolaus Wolf FU Berlin, WS 2005/ 06

Binnenmigration seit 1820 a) Stadt-Land-Migration (Hochstedt 1999) Graphik zeigt die Entwicklung der Zuwanderungsraten von Düsseldorf-Stadt, dem Bezirk Düsseldorf und Berlin 1815-1880 (Hochstadt 1999, S. 83)  ökonomische Krisen sind deutlich sichtbar  Zuwanderungsraten in kleineren Städten waren nicht niedriger als in größeren Städten (city vs. district)  Anstieg fand nicht kontinuierlich, sondern in Wellen statt Prof. Dr. Nikolaus Wolf FU Berlin, WS 2005/ 06

Prof. Dr. Nikolaus Wolf FU Berlin, WS 2005/ 06

Binnenmigration seit 1820 Es gibt einige Messprobleme, die man kennen sollte: Wir haben wenig direkte Daten über die Mobilität der Landbevölkerung Städtische Statistik seit 1881 sehr detailliert als Statistisches Jahrbuch Deutscher Städte veröffentlicht, umfasst immer mehr Städte; aber die neu aufgenommenen Städte sind meist die mit den höchsten Zuwanderungsraten Zuwanderung muss nicht von Dauer sein (Frage der Effizienz von Mobilität) Urbanisierung kann auch steigen, wenn Zuwanderung = Abwanderung ist (warum?) Die nächste Graphik zeigt die Entwicklung in allen statistisch erfassten deutschen Grosstädten seit 1881 (Hochstadt 1999, S. 117) Prof. Dr. Nikolaus Wolf FU Berlin, WS 2005/ 06

Prof. Dr. Nikolaus Wolf FU Berlin, WS 2005/ 06

Binnenmigration seit 1820 Die Zuwanderungsraten sind bis zum 1. Weltkrieg kontinuierlich gestiegen Wenn man den Zusammensetzungseffekt nicht beachtet, wird das Bild aber überzeichnet Um 1910 haben Berliner Stadtteile die höchsten Zuwanderungsraten, v.a. Wilmersdorf (46), Schöneberg (37), Charlottenburg (34) Wer war der typische Migrant? Kennzeichen (nach Gewichtung) Jung Unverheiratet Arm Männlich Prof. Dr. Nikolaus Wolf FU Berlin, WS 2005/ 06

Zuwanderungsraten nach Bevölkerungsgruppen, Berlin 1907-09 Binnenmigration seit 1820 Zuwanderungsraten nach Bevölkerungsgruppen, Berlin 1907-09 Verheiratet Verwitwet Ledig Alter Männlich Weiblich 15-25 0,13 0,12 0,22 0,34 0,31 25-30 0,11 0,08 0,14 0,35 0,27 30-35 0,09 0,06 0,10 0,30 0,19 35-50 0,03 0,05 0,20 Über 50 0,02 0,04 Total 0,07 0,32 0,25 Quelle: Hochstadt 1999, S. 153 Prof. Dr. Nikolaus Wolf FU Berlin, WS 2005/ 06

Binnenmigration seit 1820 Zuwanderungsraten nach Einkommensgruppen, ca Frankfurt Stettin Essen Elberfeld Kiel Gesamtbevölkerung 0,18 0,15 900-3000 Mark 0,13 na 3000-6500 Mark 0,03 0,04 0,06 0,05 6500-9500 Mark 0,02 9500-30500 Mark Über 30500 Mark 0,002 0,01 0,005 Quelle: Hochstadt 1999, S. 154 Prof. Dr. Nikolaus Wolf FU Berlin, WS 2005/ 06

Binnenmigration seit 1820 b) Überregionale Migration in Deutschland War die Migration effizient? Das heißt: sind die Menschen auch dort geblieben, wo sie hingewandert sind?  nicht immer; Abwanderungsraten waren oft ähnlich hoch wie Zuwanderungsraten b) Überregionale Migration in Deutschland Welche Gebiete haben Bevölkerung gewonnen, welche Bevölkerung verloren? Hypothese aus dem CP-Modell: stark industrialisierte Gebiete weisen höheren Reallohn aus und ziehen Migration an Dazu fehlen aber brauchbare Reallohndaten Welche Regionen haben gewonnen, welche verloren? Prof. Dr. Nikolaus Wolf FU Berlin, WS 2005/ 06

Binnenmigration seit 1820 Quelle: Oliver Grant (2005), S. 101 Prof. Dr. Nikolaus Wolf FU Berlin, WS 2005/ 06

Binnenmigration seit 1820 Quelle: Oliver Grant (2005), S. 116 Prof. Dr. Nikolaus Wolf FU Berlin, WS 2005/ 06

Binnenmigration seit 1820 Das Migrationsmuster scheint sich Mitte der 1880er Jahre verändert zu haben: während bis dahin Binnenmigration va. Abwanderung aus der Landwirtschaft war, werden allmählich andere Faktoren wichtiger: Demographische Variablen Veränderungen innerhalb der Landwirtschaft Prof. Dr. Nikolaus Wolf FU Berlin, WS 2005/ 06

Quelle: Oliver Grant (2005), S. 119 Prof. Dr. Nikolaus Wolf FU Berlin, WS 2005/ 06

Grenzüberschreitende europäische Migration bis 1900 Es gibt eine lange Tradition von überregionaler Mobilität in Europa: Handwerker, Kirchenleute, Gelehrte, Kaufleute waren schon im Mittelalter über sehr weite Entfernungen hinweg mobil (und vernetzt!) Wichtig war insbesondere die großräumige Migration von Dienstleuten und Landarbeitern, letztere insbesondere als Saisonmigration Deutschland war dabei nur selten das Zielgebiet, eher ein typisches Ursprungsland  zB „Hollandgänger“: um 1700 kamen etwa 15000 deutsche Saisonarbeiter pro Jahr nach Amsterdam (Moch 2003, S. 30) Die folgende Karte zeigt das System von überregionaler Saisonarbeit in Mittel-Westeuropa um 1750 Prof. Dr. Nikolaus Wolf FU Berlin, WS 2005/ 06

Die wesentlichen Ziele der saisonalen überregionalen Migration waren Paris, Bordeaux, Marseille, Südengland (London), Holland, die Hansestädte, Madrid, Mailand, Po-Ebene Prof. Dr. Nikolaus Wolf FU Berlin, WS 2005/ 06

Grenzüberschreitende europäische Migration bis 1900 (2) Seit 1850 veränderte sich dieses Muster Die Bedeutung wandernder Landarbeiter und Handwerker nahm relativ ab, die Bedeutung wandernder Industriearbeiter (mit der Tendenz sesshaft zu werden), nahm relativ zu Die größte überregionale Wanderungsbewegung der Zeit ging aber über Europas Grenzen hinaus: nach Amerika Prof. Dr. Nikolaus Wolf FU Berlin, WS 2005/ 06

Die Europäische Emigration nach Amerika im 19. Jahrhundert: Übersicht Zwischen 1820 und 1913 sind etwa 60 Millionen Europäer nach Amerika ausgewandert, die meisten in die USA Um 1846 waren es c. a. 300000 pro Jahr, um 1900 über 1 Million, nach 1900 nahm die Auswanderung allmählich ab Bis 1850 kamen die amerikanischen Einwanderer vor allem aus England und Irland, später aus Deutschland, Seit den 1880ern wanderten v.a. Südeuropäer aus, seit 1890 v.a. Menschen aus der Habsburger-Monarchie und Russland Die folgende Tabelle gibt eine übersicht über die Aus- und Einwanderungsraten 1850-1910 Prof. Dr. Nikolaus Wolf FU Berlin, WS 2005/ 06

Die Europäische Emigration nach Amerika im 19. Jahrhundert (2) Migrationsraten (pro 1000 Bevölkerung) für einige europäische und amerikanische Länder Land 1851-60 1861-70 1871-80 1881-90 1891-00 1901-10 England, Wales, Schottland 58 51,8 50,4 70,2 43,8 65,3 Irland na 66,1 141,7 88,5 69,8 Frankreich 1,1 1,2 1,5 3,1 1,3 1,4 Deutschland 14,7 28,7 10,1 4,5 Spanien 36,2 56,6 Italien 10,5 33,6 50,2 107,7 Argentinien 38,5 99,1 117 221,7 163,9 291,8 USA 92,8 64,9 54,6 85,8 53 102 Quelle: Hatton / Williamson (1998) Prof. Dr. Nikolaus Wolf FU Berlin, WS 2005/ 06

Die Europäische Emigration nach Amerika im 19. Jahrhundert (3) Gegen Ende des Jahrhunderts kam es immer häufiger zu Re-Emigration: zwischen 1890-1910 betrug die Rückwanderung ca. 30% der (Brutto-) Einwanderung  im Vergleich zu Binnenmigration war die grenzüberschreitende Migration deutlich „effizienter“ Wer ist ausgewandert? Um 1800 überwiegend Bauern und Handwerker, oft in größeren Gruppen (Großfamilien, Dörfer) Um 1900 überwiegend aus Städten, meist junge, ledige, und nicht sehr wohlhabende Leute: zwischen 1868 und 1910 waren 76% der Einwanderer in der Altersgruppe 15-40 (US-Bevölkerung: 42%)  Zuwachs des Arbeitspotentials und eine massive Verjüngung der US-Bevölkerung; zudem emigrierten mehr Männer als Frauen Prof. Dr. Nikolaus Wolf FU Berlin, WS 2005/ 06

Die Europäische Emigration nach Amerika im 19. Jahrhundert (4) Können wir das Phänomen ökonomisch erklären? Die Migration von Arbeit aus dem dichtbevölkerten Europa in das dünnbesiedelte Amerika kann jedes neoklassische Lohnmodell aus Unterschieden im Grenzprodukt der Arbeit erklären Interessanter sind der zeitliche Verlauf und die Unterschiede zwischen den verschiedenen Teilen Europas Man muss 2 Phänomene erklären: Warum sind die Menschen zuerst aus den reicheren Teilen Europas ausgewandert? Ein Italiener hätte durch Auswanderung 1830 deutlich mehr Real gewonnen als ein Brite Warum hat die Auswanderung generell trotz steigender Realllöhne zugenommen? Prof. Dr. Nikolaus Wolf FU Berlin, WS 2005/ 06

Die Europäische Emigration nach Amerika im 19. Jahrhundert (5) Prof. Dr. Nikolaus Wolf FU Berlin, WS 2005/ 06

Die Europäische Emigration nach Amerika A: Reallohn, GB 1905=100, B: Reallohn, Mittelwert der Empfängerländer =100 Internationally Comparable Wage Rates and Wage Ratios (Source: O‘Rourke/ Williamson 2001, p. 126) Country   1850-1859 1860-1869 1870-1879 1880-1889 1890-1899 1900-1913 Denrnark A - 41 52,6 70,6 94,2 B 34,6 40,1 47,9 56,8 France 44,3 46,2 52 60,4 65,1 71,2 45,6 45,4 38,3 42,9 Germany 52,5 55,4 62,3 68,5 78,1 85,9 54,1 53,4 53,9 52,7 Great Britain 59,4 59 70,3 83,5 99,4 98,2 59,6 63 66 Ireland 44,4 43,6 51,7 64,5 87,3 90,9 50 60,2 56,2 Spain 30,4 28 27,6 25,5 26,8 56,3 52,1 36,6 30,9 31,7 Sweden 24,2 39 51,1 70,7 92,2 36,7 43,2 52,3 59,9 Prof. Dr. Nikolaus Wolf FU Berlin, WS 2005/ 06

Die Europäische Emigration nach Amerika im 19. Jahrhundert (7) Bausteine für ein Modell der europäischen Amerikaemigration Migration hängt ab von Reallohnunterschied zwischen Ursprungs- und Zielland Den Kosten der Migration Der Alterstruktur im Ursprungsland Länderspezifischen Faktoren Die Graphik veranschaulicht den Effekt von Änderungen des relativen Reallohns und der Migrationskosten auf die Migrationsrate Prof. Dr. Nikolaus Wolf FU Berlin, WS 2005/ 06

Prof. Dr. Nikolaus Wolf FU Berlin, WS 2005/ 06

Die Europäische Emigration nach Amerika im 19. Jahrhundert (8) Eine ökonometrische Untersuchung zu den Bestimmungsfaktoren europäischer Auswanderungsraten 1860-1913 von Hatton/ Williamson (2002) gibt folgendes Ergebnis: MigRate = − 6.08 (3.3) − 4.57 (1.3) AgShare − 6.86 (4.4) LnWRatio + 0.37 (3.5) LagBirth + 0.22 (8.4) MigStock + 5.64 (4.7) Dum; Adj. R2 = 0.69 Sample: Decade-average observations for an unbalanced panel comprising: Belgium 1860-1913; Denmark 1880-1913; France 1870-1913; Germany 1970-1913; Great Britain 1860-1913; Ireland 1860-1913; Italy 1880-1913; Netherlands 1860-1913; Norway 1880-1913;Portugal 1870-1913; Spain 1890-1913; and Sweden 1860-1913. (Variable definitions: MigRate = gross emigration rate per thousand population per decade to all foreign destinations; Agshare = share of labour force in agriculture; LnWRatio = log of the ratio of purchasing power parity adjusted wage rates, source country to a weighted average of destination countries; LagBirth = source country birth rate lagged 20 years; Migstock = stock of previous immigrants in destination countries at beginning of decade per thousand of source country population; Dum = dummy for Belgium, Italy, Portugal and Spain.) Wenn man die Koeffizienten mit den jeweiligen Durchschnittswerten für die Variablen multipliziert, ergibt sich folgendes Bild für den Erklärungsbeitrag der einzelnen Komponenten Prof. Dr. Nikolaus Wolf FU Berlin, WS 2005/ 06

Die Europäische Emigration nach Amerika im 19. Jahrhundert (9) Prof. Dr. Nikolaus Wolf FU Berlin, WS 2005/ 06

Die Europäische Emigration nach Amerika im 19. Jahrhundert (10) Je mehr Migranten aus einem Land schon in den USA waren, desto mehr kamen nach (weil die Kosten sanken: 50% aller Schwedischen Auswanderer in den 1880ern Jahren fuhren mit Tickets, die von US-Schweden bezahlt worden waren) Je geringer der Anteil der Landwirtschaft, desto mehr Emigration  Europa spezialisiert sich auf Industrieprodukte und setzt LW-Arbeiter frei  wer in der europäischen Industrie keine Beschäftigung findet wandert aus [Unterschied zur überregionalen Migration!] Je jünger die Bevölkerung, desto mehr Auswanderung: die allg. Mobilität ist höher Je höher der Reallohn zu Hause relativ zu dem in den USA, desto weniger Auswanderung Damit kann man einen Grossteil der Variation zwischen Ländern und über die Zeit erklären; aber nicht alles Prof. Dr. Nikolaus Wolf FU Berlin, WS 2005/ 06

Die Europäische Emigration nach Amerika im 19. Jahrhundert (11) Obwohl diese große Bild plausibel ist, geraten einige interessante Details aus dem Blick, etwa die Entwicklung in Deutschland Hat Bismarck die deutsche Amerikaemigration beendet? Nach 1881, dem Jahr der Ankündigung der neuen Sozialgesetzgebung sank die Auswanderungsrate dramatisch David Khodour-Casteras (2004): Bismarck‘s Sozialgesetzgebung in den 1880ern hat die „indirekten“ Reallöhne in Deutschland deutlich erhöht und damit die Anreize zur Auswanderung signifikant gesenkt Graphik (Khodour-Casteras (2004), S. 4) zeigt die Deutsche Emigration in die USA 1820-1913 Prof. Dr. Nikolaus Wolf FU Berlin, WS 2005/ 06

Hat Bismarck die deutsche Amerikaemigration beendet? (2) Prof. Dr. Nikolaus Wolf FU Berlin, WS 2005/ 06

Hat Bismarck die deutsche Amerikaemigration beendet? (3) Prof. Dr. Nikolaus Wolf FU Berlin, WS 2005/ 06

Hat Bismarck die deutsche Amerikaemigration beendet? (4) Die Reallöhne haben sich schon deutlich vor 1881 angeglichen, das Lohndifferential blieb bis 1913 auf einem Niveau von c.a. 1,9 Prof. Dr. Nikolaus Wolf FU Berlin, WS 2005/ 06

Hat Bismarck die deutsche Amerikaemigration beendet? (5) Prof. Dr. Nikolaus Wolf FU Berlin, WS 2005/ 06

Hat Bismarck die deutsche Amerikaemigration beendet? (6) 1881 kündigt Bismarck im Reichstag die neue Sozialgesetzgebung an 1883 wird das Gesetz zur Krankenversicherung im RT verabschiedet 1884 das Gesetz über die Unfallversicherung 1886 das Gesetz über die Alters- und Invalidenversicherung  diese Versicherungen betrafen einen sehr großen Teil der aktiven Bevölkerung (KC 04, S. 16ff.)  die Nettoeinzahlungen in diese waren geringer als die Nettoauszahlungen  der „total real wage“ war höher als der „direct real wage“ Prof. Dr. Nikolaus Wolf FU Berlin, WS 2005/ 06

Hat Bismarck die deutsche Amerikaemigration beendet? (7) Prof. Dr. Nikolaus Wolf FU Berlin, WS 2005/ 06

Hat Bismarck die deutsche Amerikaemigration beendet? (8) Der Effekt der indirekten Lohnerhöhung lässt sich ökonometrisch nachweisen  ohne die Sozialversicherungen wäre die deutsche Amerikaemigration nach 1883 deutlich höher gewesen Prof. Dr. Nikolaus Wolf FU Berlin, WS 2005/ 06

Hat Bismarck die deutsche Amerikaemigration beendet? (9) Bismarcks Sozialgesetzgebung kann das Phänomen allein nicht erklären, aber sie liefert einen Beitrag dazu Weitere Ansätze in der jüngeren Literatur: die Auswanderungswelle aus Zentral- und Osteuropa (Habsburg, Russland) hat den Wettbewerb für deutsche Arbeitskräfte in den USA verschärft (Grant, EEH 2003) Problem: die hohe Anzahl der Deutschen Siedler in den USA hätte deutschen Neuankömmlingen einen großen Vorteil gegenüber diesen Konkurrenten verschaffen müssen (Effekte der Kettenmigration) Prof. Dr. Nikolaus Wolf FU Berlin, WS 2005/ 06