Alles hat seine Zeit. Das hohe Alter in unserer Gesellschaft

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 Präsentation transkript:

Alles hat seine Zeit. Das hohe Alter in unserer Gesellschaft Dr. Heinz Rüegger Impulsveranstaltung von Ref. Kirchen BE-JU-SO, Röm.-kath. Landeskirche, Pro Senectute Kanton Bern Ittigen, 10. Oktober 2013

Demographische Entwicklung Demographische Entwicklung zu einer Gesellschaft des langen Lebens. Das beinhaltet - kollektiv: relative Zunahme des Bevölkerungssegments der Alten gegenüber anderen Altersgruppen - individuell: Langlebigkeit/Hochaltrigkeit als Ausdruck einer normalen Biografie Diese Entwicklung ist neu und menschheitsgeschichtlich einzigartig. Sie ist nicht Ausdruck ‘natürlicher’ biologi-scher Evolution, sondern einer gezielten zivilisatorischen Errungenschaft. Hochaltrigkeit verdankt sich der Kultur, nicht der Natur! Alter ist ein Kulturgut. (Peter Gross, 2013, 45) 10.10.13 H. Rüegger, Alles hat seine Zeit

H. Rüegger, Alles hat seine Zeit Zunahme älterer Menschen Prognose der ständigen Wohnbevölkerung der CH in 1000 (mittleres Szenario BFS): 2010 2030 2050 2060 Total 7’856.6 8’738.5 8’983.0 8’987.2 65+ 1’343.3 2’114.9 2’491.0 2’543.2 = 17.1% = 24.2% = 27.7% =28.3% 80+ 381.7 685.4 1’060.6 1’071.0 = 4.9 % = 7.8 % = 11.8 % =11.9% Alte = die am stärksten wachsende Bevölkerungsgruppe. Der Altersquotient (Anzahl Personen 65+ pro hundert Personen 20-64) erhöht sich von 27,5 im Jahr 2010 auf 53,1 im Jahr 2060. 10.10.13 H. Rüegger, Alles hat seine Zeit

H. Rüegger, Alles hat seine Zeit Langlebigkeit: Lebenserwartung bei Geburt im Jahr für Männer für Frauen 1900 46,2 Jahre 48,9 Jahre 2012 80,5 Jahre 84,7 Jahre > in einem guten Jahrhundert Steigerung der Lebenserwartung um über 30 Jahre! Peter Gross, 2013, 18: „Tag für Tag werden die Europäer älter. Tag für Tag gewinnen wir … sechs Stunden Lebenserwartung, das sind Jahr für Jahr 3 Monate.“ 10.10.13 H. Rüegger, Alles hat seine Zeit

H. Rüegger, Alles hat seine Zeit Restlebenserwartung im Jahr mit 60 mit 70 mit 80 mit 90 Jahren 1900 bei Männern 12,5 7,6 4,1 2,2 Jahre 2007 bei Männern 22,5 14,7 8,2 4,1 Jahre 1900 bei Frauen 13,0 7,7 4,2 2,4 Jahre 2007 bei Frauen 26,3 17,6 10,4 4,7 Jahre > in einem Jahrhundert Verdoppelung der Altersphase! 10.10.13 H. Rüegger, Alles hat seine Zeit

H. Rüegger, Alles hat seine Zeit Ausweitung des Alters Unterschied man früher ganz grob - Kindheit/Jugend (-20) - Erwachsenenalter (21-64) - Alter (65+), so unterscheidet man heute - Kindheit/Jugend (-20) - mittleres Erwachsenenalter (21-64) - junges Alter (65-84) - hohes Alter (85+) > neu ist die Lebensphase des jungen Alters. 10.10.13 H. Rüegger, Alles hat seine Zeit

H. Rüegger, Alles hat seine Zeit Charakterisierung des jungen Alters (the young old, best agers, golden agers): - meist gesund + vital - materiell abgesichert - reich an Erfahrungen, Kompetenzen, Ressourcen - grosse Freiheit (ohne Berufs-/Familienpflichten) - ohne feste gesellschaftliche Rollenerwartungen Charakterisierung des hohen Alters (the old old): - erhöhtes Risiko von organischen, psychischen und sozialen Funktionseinbussen + Verlusten - vermehrt chronische Erkrankungen, Multimorbidität - zunehmendes Angewiesensein auf Unterstützung - Konfrontation mit dem nahenden Tod 10.10.13 H. Rüegger, Alles hat seine Zeit

H. Rüegger, Alles hat seine Zeit Alter beinhaltet heute also zwei ganz unterschied-liche Lebenskulturen. Als wirklich ‘alt’ gilt man heute erst im hohen Alter. Das junge Alter ist in manchem der mittleren Erwachsenen-phase ähnlicher als dem hohen Alter. Dominante Bewertung des Altes heute in Gesellschaft und Gerontologie: «Hoffnung mit Trauerflor» (Paul B. Baltes) - hoffnungsvolle Perspektiven für das junge Alter - schlechte Perspektiven für das hohe Alter (dabei ist gerade die Gruppe der Hochaltrigen die am stärksten wachsende Bevölkerungsgruppe!) 10.10.13 H. Rüegger, Alles hat seine Zeit

H. Rüegger, Alles hat seine Zeit Wir beobachten gleichzeitig und komplementär - eine Aufwertung des jungen Alters und - eine Diskreditierung des hohen Alters. Ludwig Amrhein: «Hochaltrigkeit wird kulturell als Antimodell bzw. als negative Utopie des Alter(n)s konstruiert.» 10.10.13 H. Rüegger, Alles hat seine Zeit

Ambivalenz im Blick auf das Alter Unsere Gesellschaft hat mehrheitlich immer noch ein negatives Altersbild („altes Eisen“, „Alterssturheit“, „Alterskrankheit“, „Abbau“, „Überalterung“, „Ruhe-Stand“...) - J. Hillman: „Je älter wir werden, desto weniger sind wir wert.“ - M. Maron: „Natürlich will ich, was alle wollen: Ich will lange leben; und natürlich will ich nicht, was alle nicht wollen: Ich will nicht alt werden. Ich würde auf das Alter lieber verzichten. Einmal bis fünfundvierzig und ab dann pendeln zwischen Mitte Dreissig und Mitte Vierzig, bis die Jahre abgelaufen sind; so hätte ich die mir zustehende Zeit gerne in Anspruch genommen.“ 10.10.13 H. Rüegger, Alles hat seine Zeit

H. Rüegger, Alles hat seine Zeit Auch viele Alte selbst haben ein negatives Altersbild internalisiert. - Laure Wyss: „Es ist ja kein Schleck, heute zum Kontingent jener zu gehören, die immer zahlreicher und immer dringlicher zur Belastung der aktiven Bevölkerung werden. Wir Alten sind eine Last, eine Bedrohung. Das ganze Land, viele in unserer Umgebung suchen nach Lösungen, wie man mit uns fertig wird, wo uns unterbringen, pflegen, ernähren, wie uns ertragen punkto Kosten und auch psychisch. Es ist sicher für niemanden erheiternd, sich mit uns zu beschäftigen, mit uns, die wir nichts mehr einbringen und ganz ohne Zukunft sind. Für uns aber auch kein Schleck, in diese Bevölkerungsschicht hineingestossen zu werden.“ 10.10.13 H. Rüegger, Alles hat seine Zeit

H. Rüegger, Alles hat seine Zeit Gesellschaftliche Schizophrenie: - Wir tun alles, um immer älter zu werden, und werten das Alter gleichzeitig ab (Anti-Aging). - Wir entscheiden uns bewusst für eine Gesellschaft mit mehr Alten und weniger Jungen, beklagen aber gleichzeitig die gesellschaftliche ‘Überalterung’ als Problem. Dabei belegen empirische Untersuchungen, dass die subjektive Lebenszufriedenheit mit steigendem Alter – trotz aller damit einher gehenden Beschwernisse – zunimmt! (sog. Alters-Zufriedenheits-Paradox) (Jonathan Bennett/Matthias Riedel, 2013, 25) Peter Gross, 2013, 17: „An einer Hand abzählbar sind die Stimmen, die im Altern eine Erfolgsgeschichte unserer Zivilisation sehen und die aktuellen Debatten auf die glückhaften Umstände dieses Erfolges einstimmen.“ James Hillmann: „Je älter wir werden, desto weniger sind wir wert.“ 10.10.13 H. Rüegger, Alles hat seine Zeit

Hohes Alter als gesellschaftliche Herausforderung Hohes Alter/Langlebigkeit ist eine der grössten - individuell-biographischen und - kollektiv-gesellschaftlichen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Gesellschaftliche Herausforderungen - ökonomisch: materielle Absicherung (Sozialversiche- rung); Nutzung der Ressourcen älterer Menschen - medizinisch-pflegerisch: geriatrische + alters- psychiatrische Versorgung; ambulante + stationäre Langzeitpflege 10.10.13 H. Rüegger, Alles hat seine Zeit

H. Rüegger, Alles hat seine Zeit - philosophisch-wertmässig: Auseinandersetzung mit den leitenden Wertvorstellungen unserer Leistungs- gesellschaft; Schaffung eines Sozialklimas positiver Bewertung von Hochaltrigkeit als Voraussetzung für eine Akzeptanz des hohen Alters und für die soziale Integration hochaltriger Menschen. Die philosophisch-wertmässige Herausforderung ist die fundamentalste, die umfassendste und schwierigste – und zugleich die am wenigsten thematisierte! Sie soll im Zentrum der folgenden Ausführungen stehen. 10.10.13 H. Rüegger, Alles hat seine Zeit

H. Rüegger, Alles hat seine Zeit Alter als eigenständige Lebensphase würdigen: Pro-Aging statt Anti-Aging Unsere Gesellschaft ist stark an einer Kultur der Jugendlichkeit + des jungen Erwachsenenlebens orientiert (forever young!), die zur Norm für alle anderen Lebensphasen gemacht wird. Was zählt ist - Vitalität, Gesundheit, Fitness - jugendliche Schönheit - kognitive, physische und psychische Leistungsfähigkeit - Genussfähigkeit - Selbstständigkeit + Unabhängigkeit 10.10.13 H. Rüegger, Alles hat seine Zeit

H. Rüegger, Alles hat seine Zeit > Hohes Alter erscheint als defizitäre Schwundstufe vollen, würdigen Menschseins, die es zu vermeiden gilt: - durch Bemühungen um ein erfolgreiches Altern (successful aging) - oder durch Massnahmen eines insbesondere medizinischen Anti-Aging. - Giovanni Maio: Verhinderung des Alters als «Credo unserer Zeit». «Das Alter soll vermieden werden. Es soll nicht bewältigt oder gemeistert oder gefüllt, sondern vermieden werden.» - Reimer Gronemeyer: «Alter ist immer weniger ein existenzielles Geschehen, sondern wird immer mehr zum vermeidbaren Übel erklärt.» 10.10.13 H. Rüegger, Alles hat seine Zeit

H. Rüegger, Alles hat seine Zeit Wer erkennbar alt wird und leistungsmässig nachlässt, muss mit Abwertung (ageism), schwindender sozialer Akzeptanz und Diskriminierung rechnen. Demgegenüber ist damit ernst zu machen, dass jede Lebensphase - auch das hohe Alter – ein eigenstän-diges Profil hat - mit eigenen (Entwicklungs-)Möglichkeiten - mit eigenen Herausforderungen - mit eigenen Aufgaben - mit eigenen Sinnperspektiven. Keine Lebensphase ist für alle anderen normativ. Das hohe Alter hat seine eigenen Massstäbe. Friedrich Fürstenberg 2013, 17: „Die Wahrnehmung von Leistungsdefiziten in der persönlichen Lebensführung, die an Massstäben der Erwerbsgesellschaft gemessen werden, führt … zu einer Minderung sozialer Akzeptanz alter Menschen, insbesondere zu einer Abwertung und sogar Diskriminierung der späten Altersphase, die durch zunehmende Hilsbedürftigkeit gekennzeichnet wird.“ 10.10.13 H. Rüegger, Alles hat seine Zeit

H. Rüegger, Alles hat seine Zeit Jede Lebensphase entwickelt ihre eigene(n) Kultur(en) und spezifischen Werte. Die Gesellschaft lebt vom optimalen Zusammenklang der verschiedenen Kulturen. Dazu braucht es auch den Klang einer Kultur des hohen Alters, und das heisst: . Hochaltrige, die selbstbewusst zu ihrer Hochaltrigkeit stehen und sie bewusst leben, und . eine Gesellschaft, die solchem Leben in hohem Alter Raum gibt und es sensibel wahrnimmt. Die Gerontologie nennt diese Haltung Pro-Aging. 10.10.13 H. Rüegger, Alles hat seine Zeit

Infragestellung dominanter Werte: die Sinnfrage Das hohe Alter ist mit Defiziten, Schwächerwerden, Krankheiten und Verlusten verbunden. Es ist damit eine lebendige Infragestellung der dominanten Werte unserer Gesellschaft: Stärke, Leistung, Geschwindigkeit, Wachstum, Selbstständigkeit, Unabhängigkeit. Damit drängt sich die Sinnfrage auf: Was ist der Sinn, der Wert, die Bedeutung des hohen Alters – für den einzelnen alten Menschen und für die Gesellschaft als Ganzes? 10.10.13 H. Rüegger, Alles hat seine Zeit

H. Rüegger, Alles hat seine Zeit Diese Frage stellt sich mit grosser Dringlichkeit. Aber sie ist weithin ungeklärt. Peter Gross spricht von einer «Sinnfinsternis, in der das Alter sich seines Daseins schämt. In der sich die Alten selber unter der Last der auf sie getürmten Jahre ducken und sich schuldig fühlen, überhaupt noch zu leben.» (2013, 23) Eine wichtige Funktion und ein spezifischer Sinn des hohen Alters könnte gerade - in der Infragestellung dominanter Werte unserer Gesellschaft und - in der Korrektur eines einseitig ausgeprägten Menschenbildes bestehen. Der Soziologe Prof. em. Peter Gross (Uni St. Gallen) hat in jüngster Zeit vielleicht am stärksten auf die Zentralität dieser Sinnfrage des hohen Alters hingewiesen (2013). Er schreibt: - «Das Alter verlangt nicht nach irgendeiner Deutung. Sondern nach einer Sinngebung der Schwäche. Und zwar auch für das hohe Alter, in dem Gebrechlichkeit, Erschöpfung und Rückzug vorherrschen. Denn allem Altern ist das Nachlassen und Schwächerwerden gemeinsam. Dieser Tatsache ins Auge zu sehen und ihr einen Sinn abzutrotzen zu versuchen, das ist alles andere als einfach.» (10) - «Die Defizite im Alter, das Schwächerwerden, das Schwinden der Kräfte, die Verluste an sozialen Kompetenzen … rufen nach einer Sinngebung. Das ist die drängende und zentrale Frage. Man kann sich ihr nicht entziehen, wenn man älter wird. (…) Die Frage nach dem Sinn eines solchen Lebens erhebt sich sogar umso lauter, je leiser das Leben wird. Die moderne Gesellschaft muss sich mit einer solchen Sinnfindung schwer tun. Sie ist auf Kraft und Wachstum getrimmt. Sie ist eine Kraftmaschine.» (12) - «In einer Welt ewiger Tüchtigkeit findet deshalb Alter schwerlich einen Platz. (…) Eine Gesellschaft, die Spitzenleistungen, Kraft und den faustischen Menschen prämiert, die dem Jugendkult huldigt und die Kindheit verklärt, muss sich mit Altwerden, das ein schrittweises Abschiednehmen vom Getriebe der Welt bedeutet, offenkundig schwer tun.» (13) - «Der Sinnbedarf schwillt gewissermassen proportional zur Alterung an. Man läuft der Sinnfrage im Ruhestand schnurstracks in die Arme.» (76) - Aber über dem Lebensabschnitt des Alters «lastet eine merkwürdige Sinnfinsternis.» (77) - «Nicht das Altern und auch nicht der sich vergrössernde Anteil von alten Menschen in modernen Gesellschaften sind das Problem, sondern ihre an den gesellschaftlichen Werten gemessen offenbare Sinn- und Funktionslosigkeit und die damit einhergehende Nutzlosigkeit dieser Fristerstreckung. In dieser Sichtweise beinhaltet die Steigerung der Lebenserwartung eine Verschwendung und Zunahme sinnloser Jahre. Die gewonnene Zeit erscheint überflüssig, sie ist keine freudig in Empfang genommene Zuwendung, sondern eine Demütigung.» (23) 10.10.13 H. Rüegger, Alles hat seine Zeit

H. Rüegger, Alles hat seine Zeit Am Leben von Menschen im hohen Alter könnte unsere Gesellschaft lernen, - dass der Wert des Lebens in mehr besteht als in Leistung: auch im Empfangen und im blossen Dasein; - dass zum Leben nicht nur Selbstständigkeit und Unabhängigkeit gehören, sondern auch Hilfebedürftig- keit und Verwiesensein aufeinander; - dass zu einem guten, sinnvollen Leben immer beide Pole gehören: . Gesundheit und Krankheit . Möglichkeiten und Grenzen . Wachsen und Abnehmen . Werden und Vergehen; 10.10.13 H. Rüegger, Alles hat seine Zeit

H. Rüegger, Alles hat seine Zeit Am Leben von Menschen im hohen Alter könnte unsere Gesellschaft lernen, - achtsam umzugehen mit unser aller Verletzlichkeit und zu entdecken, dass auch Leiden sinnkonstitutiv sein kann (Viktor E. Frankl; Thomas Rentsch); - die eigene Sterblichkeit nicht zu verdrängen, sondern angesichts der Unausweichlichkeit des Todes so achtsam leben zu lernen, dass wir lebenssatt werden. Eine Kultur der Zärtlichkeit im Umgang mit der eigenen Verletzlichkeit entwickeln (Judith Giovanelli-Blocher). Leiden als sinnkonstitutiv/sinnstiftend: Es geht um die Entwicklung der „pathischen“ Fähigkeiten, also der Fähigkeiten, Schwierigkeiten und Schicksalsschläge auszuhalten, Grenzen anzuerkennen, Negatives in die eigene Identität zu integrieren. Nicht in einer resignierten Opferhaltung, sondern im Sinne eines „aufrechten Leidens“ (Viktor E. Frankl). Zu einer Lebenskunst (ars vivendi) gehört nach einer langen abendländischen Tradition auch eine Kunst des Sterbens (ars moriendi), des Sich-Anfreundens mit der eigenen Endlichkeit. Denn: „Wer den Tod verdrängt, verpasst das Leben“ (Manfred Lütz). Eine lange philosophische Tradition weiss: „Memento mori“/ Todesgedenken und „carpe diem“/Lebensgenuss gehören zusammen. 10.10.13 H. Rüegger, Alles hat seine Zeit

H. Rüegger, Alles hat seine Zeit Das hohe Alter zwingt zu einer Lebenskultur, die geprägt ist durch - Entschleunigung - Mässigung/Genügsamkeit - Rücksichtnahme - Besinnlichkeit Diese Elemente könnten eine heilsame Korrektur gegen «die in modernen Gesellschaften herrschende aggressiv-hyperaktive Grundstimmung» darstellen. (Peter Gross 2013, 126) Peter Sloterdijk sieht Alte als Symbol der Mässigung. Sie stellen damit ein heilsames Gegenprinzip zur Masslosigkeit moderner Gesellschaften dar. Peter Gross 2013: „Nicht Appelle und Gebete, sondern die demografische Demobilisierung und die damit einher-/gehende Erschöpfung werden die alten räuberischen, expansiven und letztlich selbstmörderischen Wertordnungen, in denen allein Wachstum Wohlstand garantieren soll, zu korrigieren vermögen.“ (134f.) „Altern heisst widerstehen. Altern heisst Beharrungskräfte entwickeln. Altern heisst Beruhigung.“ (138) Friedrich Nietzsche, Menschliches und Allzumenschliches, Maxime 285: „Aus Mangel an Ruhe läuft unsere Zivilisation in eine neue Barbarei aus. Zu keiner Zeit haben die Tätigen, das heisst die Ruhelosen mehr gegolten. Es gehört deshalb zu den notwendigen Korrekturen, welche man am Charakter der Menschheit vornehmen muss, das beschauliche Element in grossem Masse zu verstärken.“ 10.10.13 H. Rüegger, Alles hat seine Zeit

Herausforderungen an Menschen im hohen Alter Das hohe Alter stellt auch Herausforderungen an alte Menschen. Zum Beispiel: - die Akzeptanz des eigenen Alters und der eigenen Biografie - die Bewältigung eines Lebens mit Grenzen, Verlusten, gesundheitlichen Problemen - die Wahrnehmung von Selbstverantwortung z.B. durch planende Vorsorge für die letzte Lebensphase - auf irgendeine ihnen mögliche Art beizutragen zu einer von Wertschätzung und Solidarität geprägten Kultur zwischen den Generationen (Generativität). Hermann Hesse: … 10.10.13 H. Rüegger, Alles hat seine Zeit

H. Rüegger, Alles hat seine Zeit Hochbetagte Menschen werden bedeutsam für Jüngere in der Gesellschaft allein schon dadurch, wie sie ihr Alter meistern, wie sie es leben und gestalten! Dadurch machen sie Mut, Langlebigkeit und Alter als positive Möglichkeiten unserer Zivilisation anzunehmen und sinnvoll zu gestalten. 10.10.13 H. Rüegger, Alles hat seine Zeit

Besten Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Dr. Heinz Rüegger Institut Neumünster Neuweg 12, 8125 Zollikerberg heinz.rueegger@institut-neumuenster.ch Tel. 044 397 30 02 10.10.13 H. Rüegger, Alles hat seine Zeit

H. Rüegger, Alles hat seine Zeit Buchhinweise Peter Gross, Wir werden älter. Vielen Dank. Aber wozu? Vier Annäherungen. Freiburg: Herder 2013 Heinz Rüegger, Alter(n) als Herausforderung. Gerontologisch-ethische Perspektiven. Zürich: TVZ 2009 Heinz Rüegger, Das eigene Sterben. Auf der Suche nach einer neuen Lebenskunst. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006 10.10.13 H. Rüegger, Alles hat seine Zeit