Prof. Dr. Jörn Leonhard Vorlesung Dynamik, Expansion und Krise: Westeuropa auf dem Weg in die ambivalente Moderne 1850-1890 - 3. Folge -
Rußland: Reform aus der Krise I Europäische Positionierung und Revolutionsfurcht: Niederschlagung des Dekabristenaufstandes 1825, des polnischen Aufstandes 1830, Eingreifen in Ungarn 1848 Umfassende Reformnotwendigkeit durch Niederlage im Krimkrieg erwiesen Internationale Kontexte des Konflikts: - Orientalische Frage aus der strukturellen Schwäche des Osmanischen Reiches - Südostexpansion seit Katharina II. (Meerengenkontrolle, Schwarzes Meer, Krim, Odessa als Exportzentrum) - Mehmet Ali Krise in 1830er Jahren - Londoner Meerengenkonferenz 1841 Krisenanlässe 1854: Besetzung der Fürstentümer Moldau und Wallachei als Pfänder (Motiv: Sicherung des Verfügungsrechts über bestimmte christliche Kirchen im Osmanischen Reich)
Rußland: Reform aus der Krise II Krimkrieg als erster europäischer „Medienkrieg“ (cf. Einsatz von Kriegskorrespondenten)? Waffenstillstand März 1856: Unabhängigkeit des Osmanischen Reiches, Schließung des Schwarzen Meeres für alle Kriegsschiffe, Moldau und Wallachei als osmanische Territorien restauriert Mythos russischer Unbesiegbarkeit (seit Schlacht von Poltawa) zerstört Neuer Zar Alexander II.: notwendige Reaktion auf Entwicklungsvorsprung des europäischen Westens und Einleitung umfassender Reformen „von oben“, durch einen autokratischen Staat < Modernisierungszwang durch Kriegserfahrung
Rußland: Reform aus der Krise III Bürokratische Reformen ohne Ansätze zur Konstitutionalisierung Mißtrauen der Intelligenz gegenüber der Regierung, wenige Foren der Begegnung (Geographische Gesellschaft, Konstantinisten), Diskussion um „Gesetzlichkeit“ und „Öffentlichkeit“ (Glasnost) 1855-1864 als Reformphase: - Abschaffung der Leibeigenschaft und Agrarreformen - Selbstverwaltung durch regionale und lokale Selbstverwaltungsorgane - Justizreformen: Geschworenengerichte, professionelle Richter, unabhängige Justiz
Rußland: Reform aus der Krise IV 1851: 81% der Bevölkerung in Agrarwirtschaft, Dreifelderwirtschaft, nur 3% Fruchtwechselwirtschaft 22,5 Mio. Leibeigene, 23% der Grundherrn besitzen über 80% der Leibeigenen Leibeigenschaft als Dienstverpflichtung der Bauern gegen Adel (Adelsbauern), Staat (Staatsbauern) und zaristische Familie (Apanagebauern) 1850: über 50% der Adelsbauern als Leibeigene verpfändet < Überschuldung der Grundherrn Reformziele: Ertragssteigerung, Verwandlung von Bauern und Grundherrn in rational handelnde Wirtschaftssubjekte, Verbesserung der ökonomischen Situation des Adels: Rekutierungsreservoir, Systemstabilisierung
Rußland: Reform aus der Krise V Reformer Orlov, Konstantin, Rostovzev: Befreiung der Bauern mit Hofstelle und Land, notwendige Entschädigung des Adels Februar 1861: Befreiungsgesetz > persönliche Befreiung und obligatorische Ablösungszahlungen für Hofstelle und Land Probleme: - Ablösungssummen häufig höher als Marktwert; 20% sofort von den Bauern zu zahlen, 80% vom Staat vorgelegt (aber fehlender Kapitalmarkt); 1907 staatlicher Verzicht auf weitere Zahlungen - hohe Belastungen für Bauern, zu kleine Landzuteilungen verhindern bis 1907 Stabilisierung der Agrarwirtschaft
Rußland: Reform aus der Krise VI Reform lokaler Selbstverwaltung (vs. Tradition rigiden Zentralismus) seit Januar 1864: zemstvo auf Kreis- und Provinzebene > Versammlung von Adel, Stadtbürgern und Bauern auf Kreis- und Provinzebene, jährliche Sitzung Funktionen: Brücken- und Straßenbau, Schulwesen, Armenfürsorge Probleme: nicht in allen Provinzen existieren zemstvos, fehlende Kompetenzen Seit 1880er Jahren: zemstvo-Bewegung als quasi liberal-konstitutionelle Partei
Rußland: Reform aus der Krise VII Justizreformen: - Trennung von Justiz und Verwaltung - möglicher Instanzenzug - unabhängige Richter und Geschworenengerichte Finanz- und Heeresreformen mit 6-jähriger Dienstpflicht, aber keine allgemeine Schulpflicht Grundprobleme der Reformphase: keine Einschränkung zaristischer Autokratie, zu starke Belastung der Bauern, Beschränkung der Selbstverwaltung durch staatliche Bürokratie Konsequenz: wachsende Kluft und Entfremdung zwischen Staat und Intelligenz, seit 1880er Jahren: anarchistischer Terrorismus und politisch-gesellschaftliche Polarisierung