Prof. Dr. Jörn Leonhard Vorlesung Dynamik, Expansion und Krise: Westeuropa auf dem Weg in die ambivalente Moderne 1850-1890 - 3. Folge -

Slides:



Advertisements
Ähnliche Präsentationen
Beschäftigungsförderung zwischen Lokalisierung und Zentralisierung.
Advertisements

Russische Revolution des 20.Jahrhundert
Deutsche Außenpolitik seit 1990
Bismarcks Bündnissystem
Referat von Serkan Büyükacar und Tarkan Kaya
Entwicklung der sowjetischen Außenpolitik während der Perestrojka
Die Annektierung Tibets
Bauern und Bürger Gibt es Ansätze für die Entwicklung eines Staatsbürgers?
Vorlesung Bayern im Vormärz ( ) PD Dr. Hannelore Putz
Unterrichtsinhalte im Fach Geschichte/Oberstufe
Prof. Dr. Jörn Leonhard Vorlesung Dynamik, Expansion und Krise: Westeuropa auf dem Weg in die ambivalente Moderne Folge -
Prof. Dr. Jörn Leonhard Vorlesung Dynamik, Expansion und Krise: Westeuropa auf dem Weg in die ambivalente Moderne Folge -
Bauern im Mittelalter.
Das Schröder-Blair Papier
Grundkurs Deutsche Geschichte 1495 – 1648 Dr. Matthias Langensteiner
Australien. Regierung und Premierminister 2 3 Regierungsmitglieder aus Senat oder Unterhaus Mehrheit nur im Unterhaus notwendig Labor-Parlamentsklub.
Erfahrungsaustausch zum Selbststudium 03. März 2009.
Nationalstaat Italien Die Einigung Italiens
Russland im 18. jahrhundert
Agrarische Grundstruktur
The Crisis of Democracy
Die drei polnischen Teilungen
Kapitel 1 Einleitung Originale (englisch) von Iordanis Petsas
Referat von Xiaoyan Yang
Literatur und Quellen Kappeler, Andreas. Russische Geschichte. München: Beck, Nolte, Hans-Heinrich. Kleine Geschichte Rußlands. Stuttgart: Reclam,
Der Dreiβigjährige Krieg ( ) und seine Folgen
1.5 Religion in Staat und Gesellschaft anderer Länder Mannschaft1,5 Tage Religion in Staat und Gesellschaft der USA.
Die Schweiz im Spiegel der Anti-Minarett-Initiativdebatte Erfahrungen, Einsichten, Perspektiven 7 Thesen zur Diskussion von Andreas Gross (Zürich/St-Ursanne)
Deutsches Reich von
Frankreich im 19. Jahrhundert
Aufbruch in die Industriegesellschaft – Bedingungen des Wandels
Wie mitmachen in der sozialdemokratischen NGO? Präsentation, 13. Oktober 2011.
Deutschland zwischen 1871 und 1914
URSACHEN DES KONFLIKTS (I)
Weltwirtschaftskrise 1929 – ca. 1930
Otto von Bismarck und der Aufbau des einheitlichen deutschen Reiches
Kampagnenvorschlag Kommunale Finanzen. Rahmenbedingungen Stadt Kassel Großes Haushaltsloch im Stadtbudget – ca. 80 Millionen. Allerdings: Deckung über.
Demokratie und Entwicklung: Ghana auf guten Wegen?
1 Prof. Dr. Michael Hüther (IW), Dr. Thomas Held (AS), Dr. Jörg Mahlich (WKÖ) Das D A CH-Reformbarometer: Ein Vergleich der Reformpolitik in Deutschland,
1 Prof. Dr. Hans J. Lietzmann Jean-Monnet-Professor for European Politcs Europastudien 3. Theoretische Perspektiven Jawaharlal Nehru University / Neu-Delhi.
Herzlich Willkommen zur 4
Viele ungelöste Probleme  Druck auf Kaiser Niederlage gegen Preußen  Wiener Hof gibt nach Neue Form der Monarchie – Dualismus (k. u. k. Monarchie)
Französische Revolution
Österreich behauptet sich als Großmacht
03/04/12 03/04/12 EUROPA NACH
REFLEXION Aktuelle StudentInnen-Proteste......was könnte unbedingt verbessert werden?!
Überblick Die Beteiligten Datum Ort Beginn Ende Wilhelm Friedrich IV
EISERNER KANZLER - BISMARCK
Ein Porträt des ersten Reichskanzlers des Deutschen Reiches
Dr. Nicole Gallina Einführung in die Politikwissenschaft Sitzung vom 7.12.
Gastprofessor Dr. Árpád v. Klimó Katholische Kirche und Katholiken: Österreich im europäischen Kontext (19. und 20. Jahrhundert)
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Die nächste Nato-Osterweiterung: Stand der internationalen Diskussion
Arbeitsmigration in der EU
Russland im 18. jahrhundert
Neue Politische Ökonomie Vorlesung an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg SS 2008 Prof. Dr. Lars P. Feld Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg,
1 Lebensgefühl der Jugendlichen. 2 Bewertung von Aussage I.
1 Eckpfeiler deutscher Sicherheitspolitik - Folgerungen für heutiges Handeln.
Die Bedeutung des Staates bei den Aufklärern
Auf- und Abstieg des Napoleon Bonaparte.
Aufbau  Einführung  Ursachen  Situation (der Bauern und Adligen)  Aufstände im Vorfeld  Verlauf und Höhepunkt des Krieges  Die 12 Artikel  Reformation.
Schweizer Geschichtsbuch 3 Handreichungen für den Unterricht Folie 0© 2011 Cornelsen Verlag, Berlin. Alle Rechte vorbehalten. 2. Die neue Weltordnung nach.
Die Nationalbewegung Polens. 1. Teilung 1764 : Stanislaus August Poniatowski wird zum König von Polen gewählt. Aber schnell mischt sich Russland ein :
Deutsche Kaiser und Preußische Könige
Das Osmanische Reich Kurzdarstellung.
Kompetenzniveaus Lernlupe Mathematik
Russische Revolution.
 Präsentation transkript:

Prof. Dr. Jörn Leonhard Vorlesung Dynamik, Expansion und Krise: Westeuropa auf dem Weg in die ambivalente Moderne 1850-1890 - 3. Folge -

Rußland: Reform aus der Krise I Europäische Positionierung und Revolutionsfurcht: Niederschlagung des Dekabristenaufstandes 1825, des polnischen Aufstandes 1830, Eingreifen in Ungarn 1848 Umfassende Reformnotwendigkeit durch Niederlage im Krimkrieg erwiesen Internationale Kontexte des Konflikts: - Orientalische Frage aus der strukturellen Schwäche des Osmanischen Reiches - Südostexpansion seit Katharina II. (Meerengenkontrolle, Schwarzes Meer, Krim, Odessa als Exportzentrum) - Mehmet Ali Krise in 1830er Jahren - Londoner Meerengenkonferenz 1841 Krisenanlässe 1854: Besetzung der Fürstentümer Moldau und Wallachei als Pfänder (Motiv: Sicherung des Verfügungsrechts über bestimmte christliche Kirchen im Osmanischen Reich)

Rußland: Reform aus der Krise II Krimkrieg als erster europäischer „Medienkrieg“ (cf. Einsatz von Kriegskorrespondenten)? Waffenstillstand März 1856: Unabhängigkeit des Osmanischen Reiches, Schließung des Schwarzen Meeres für alle Kriegsschiffe, Moldau und Wallachei als osmanische Territorien restauriert Mythos russischer Unbesiegbarkeit (seit Schlacht von Poltawa) zerstört Neuer Zar Alexander II.: notwendige Reaktion auf Entwicklungsvorsprung des europäischen Westens und Einleitung umfassender Reformen „von oben“, durch einen autokratischen Staat < Modernisierungszwang durch Kriegserfahrung

Rußland: Reform aus der Krise III Bürokratische Reformen ohne Ansätze zur Konstitutionalisierung Mißtrauen der Intelligenz gegenüber der Regierung, wenige Foren der Begegnung (Geographische Gesellschaft, Konstantinisten), Diskussion um „Gesetzlichkeit“ und „Öffentlichkeit“ (Glasnost) 1855-1864 als Reformphase: - Abschaffung der Leibeigenschaft und Agrarreformen - Selbstverwaltung durch regionale und lokale Selbstverwaltungsorgane - Justizreformen: Geschworenengerichte, professionelle Richter, unabhängige Justiz

Rußland: Reform aus der Krise IV 1851: 81% der Bevölkerung in Agrarwirtschaft, Dreifelderwirtschaft, nur 3% Fruchtwechselwirtschaft 22,5 Mio. Leibeigene, 23% der Grundherrn besitzen über 80% der Leibeigenen Leibeigenschaft als Dienstverpflichtung der Bauern gegen Adel (Adelsbauern), Staat (Staatsbauern) und zaristische Familie (Apanagebauern) 1850: über 50% der Adelsbauern als Leibeigene verpfändet < Überschuldung der Grundherrn Reformziele: Ertragssteigerung, Verwandlung von Bauern und Grundherrn in rational handelnde Wirtschaftssubjekte, Verbesserung der ökonomischen Situation des Adels: Rekutierungsreservoir, Systemstabilisierung

Rußland: Reform aus der Krise V Reformer Orlov, Konstantin, Rostovzev: Befreiung der Bauern mit Hofstelle und Land, notwendige Entschädigung des Adels Februar 1861: Befreiungsgesetz > persönliche Befreiung und obligatorische Ablösungszahlungen für Hofstelle und Land Probleme: - Ablösungssummen häufig höher als Marktwert; 20% sofort von den Bauern zu zahlen, 80% vom Staat vorgelegt (aber fehlender Kapitalmarkt); 1907 staatlicher Verzicht auf weitere Zahlungen - hohe Belastungen für Bauern, zu kleine Landzuteilungen verhindern bis 1907 Stabilisierung der Agrarwirtschaft

Rußland: Reform aus der Krise VI Reform lokaler Selbstverwaltung (vs. Tradition rigiden Zentralismus) seit Januar 1864: zemstvo auf Kreis- und Provinzebene > Versammlung von Adel, Stadtbürgern und Bauern auf Kreis- und Provinzebene, jährliche Sitzung Funktionen: Brücken- und Straßenbau, Schulwesen, Armenfürsorge Probleme: nicht in allen Provinzen existieren zemstvos, fehlende Kompetenzen Seit 1880er Jahren: zemstvo-Bewegung als quasi liberal-konstitutionelle Partei

Rußland: Reform aus der Krise VII Justizreformen: - Trennung von Justiz und Verwaltung - möglicher Instanzenzug - unabhängige Richter und Geschworenengerichte Finanz- und Heeresreformen mit 6-jähriger Dienstpflicht, aber keine allgemeine Schulpflicht Grundprobleme der Reformphase: keine Einschränkung zaristischer Autokratie, zu starke Belastung der Bauern, Beschränkung der Selbstverwaltung durch staatliche Bürokratie Konsequenz: wachsende Kluft und Entfremdung zwischen Staat und Intelligenz, seit 1880er Jahren: anarchistischer Terrorismus und politisch-gesellschaftliche Polarisierung