Sprachspuren Ringvorlesung Zentrum Sprachenvielfalt und Mehrsprachigkeit Wintersemester 2009/10 Einführung: Prof. Dr. Claudia Maria Riehl
Veranstaltungsübersicht 12.10.09 Einführung C. M. Riehl 19.10.09 Spuren unserer Schrift B. Primus 26.10.09 Maltese English: sociolinguistic context and influence from Maltese S. Vella 02.11.09 Sprachenvielfalt und Sprachspuren in Afrika G. Dimmendaal 09.11.09 Spurensuche im Rätoromanischen J. Rolshoven 16.11.09 Historische Sprachkontakte in der Antike und im frühen Mittelalter J. L. García-Ramón, D. Kölligan 23.11.09 Historische Sprachkontakte im Mittelalter und der Frühen Neuzeit C. M. Riehl 30.11.09 Kontrastive Alphabetisierung in der Zweitsprache Deutsch C. Schöneberger, S. Fuhrmann 07.12.09 Language traces: the reactivation of a forgotten language K. de Bot (Groningen) 14.12.09 Code Switching S. Müller, A. Rothe 21.12.09 Spuren des Türkischen: Vom „Gastarbeiterdeutsch“ zu einem neuen Ethnolekt des Deutschen E. Türkoğlu, R.Fasanella 11.01.10 Sprache und Gehirn I. Wartenburger (Potsdam) 25.01.10 Spuren in der Syntax und Dysgrammatismus J. Lenerz 01.02.10 Gebärdensprache D. Adone, A. Bauer
Prof. Dr. Claudia Maria Riehl Typen von Spuren Spuren von Sprache in der lautlichen Realisation Spuren von Sprache in der Schrift Spuren von Sprache in der theoretischen Linguistik Spuren von einer Sprache in einer anderen (Entlehnung, Phänomene des Sprachkontakts) Spuren von Sprache im Gehirn (Neuro- und Psycholinguistik) Ringvorlesung Sprachspuren WS 2009/10, Zentrum Sprachenvielfalt und Mehrsprachigkeit Prof. Dr. Claudia Maria Riehl
Spuren in der lautlichen Realisation physikalische Aspekte von Sprachlauten: artikulatorische Phonetik: Erzeugung von Sprachlauten durch Sprechorgane akustische Phonetik: physikalische Eigenschaften von Schallwellen perzeptive Phonetik: Wahrnehmung von Sprachlauten Ringvorlesung Sprachspuren WS 2009/10, Zentrum Sprachenvielfalt und Mehrsprachigkeit Prof. Dr. Claudia Maria Riehl
Biologische Voraussetzungen des Sprechens Nutzung der biologischen Ausstattung für Sprache ist sekundär Glottis (Stimmritze) fungiert als Achse (infraglottaler und supraglottaler Raum) infraglottaler: reguliert Atmung supraglottaler Bereich: Nahrungsaufnahme und Atmung Ringvorlesung Sprachspuren WS 2009/10, Zentrum Sprachenvielfalt und Mehrsprachigkeit Prof. Dr. Claudia Maria Riehl
Wahrnehmung und physikalische Realität Laute sind Klänge, produziert durch Modulation der Stimme, aber auch ohne möglich (Flüstern) im oralen Resonanzraum hören wir auch 'die gleichen' Laute, wenn jemand eine Pfeife im Mund hat oder mit vollem Mund spricht. artikulatorische Vorgänge sind direkt über Abfühlen der Bewegungsabläufe zugänglich auch indirekt durch physikalische Wirkungen Ringvorlesung Sprachspuren WS 2009/10, Zentrum Sprachenvielfalt und Mehrsprachigkeit Prof. Dr. Claudia Maria Riehl
Darstellung im Sonogramm Ringvorlesung Sprachspuren WS 2009/10, Zentrum Sprachenvielfalt und Mehrsprachigkeit Prof. Dr. Claudia Maria Riehl
Spuren von Sprache in der Schrift Schrifttypen: logographisch (z.B. Chinesisch) wort-silbisch (z.B. Japanisch) alphabetisch (z.B. Koreanisch) Ringvorlesung Sprachspuren WS 2009/10, Zentrum Sprachenvielfalt und Mehrsprachigkeit Prof. Dr. Claudia Maria Riehl
Wann spricht man von Schrift? Schrift im eigentlichen Sinne ist ein Verfahren, akustische sprachliche Zeichen durch visuelle Zeichen wiederzugeben Schrift liegt erst da vor, wo konventionelle visuelle Zeichen auf die Sprache der Schriftbenutzer bezogen sind Wenn die Beziehung zwischen dem abgebildeten Gegenstand und seiner lautlichen Form etabliert ist, kann sich die Schrift auch vom "Bild" wegentwickeln Ringvorlesung Sprachspuren WS 2009/10, Zentrum Sprachenvielfalt und Mehrsprachigkeit Prof. Dr. Claudia Maria Riehl
Beispiel für Entstehung eines Schriftsystems (Pulgram 1976) man go mango catch + up ketchup sell + fish selfish
Spuren von Sprache in der theoretischen Linguistik Im Sprachsystem sind abstrakte (evtl. genetisch angelegte) Strukturprinzipien wirksam. Eine Aufgabe der linguistischen Theoriebildung besteht darin, die relevanten Strukturen sichtbar zu machen und die abstrakten Prinzipien zu entdecken, die ihnen zugrunde liegen. Diese Prinzipien werden mit Hilfe von Modellen sichtbar gemacht Ringvorlesung Sprachspuren WS 2009/10, Zentrum Sprachenvielfalt und Mehrsprachigkeit Prof. Dr. Claudia Maria Riehl
Beispiel: Phrasenstrukturgrammatik Das Prinzip, dass grammatische Einheiten aus einem Kopf und davon abhängigen Adjunkten besteht, wird durch ein Baumstrukturschema dargestellt
Spuren einer Sprache in einer anderen (Sprachkontakt) Wenn verschiedene Sprachen auf einander treffen, beeinflussen sie sich gegenseitig Substrat Superstrat Adstrat Ringvorlesung Sprachspuren WS 2009/10, Zentrum Sprachenvielfalt und Mehrsprachigkeit Prof. Dr. Claudia Maria Riehl
Prof. Dr. Claudia Maria Riehl Substratwirkung Eine Sprache wird zugunsten einer Eroberersprache aufgegeben Die Eroberersprache übernimmt etwas von der ursprünglichen Sprache Vgl. Latein in Gallien: Elemente der keltischen Sprache Wortschatz der Landwirtschaft: afr. mesgue < gall. *mesigus 'Molke' afr. brèche < gall. brisca 'Wabe' afr. lie < gall. līga 'Trester' Ringvorlesung Sprachspuren WS 2009/10, Zentrum Sprachenvielfalt und Mehrsprachigkeit Prof. Dr. Claudia Maria Riehl
Prof. Dr. Claudia Maria Riehl Superstratwirkung Die Eroberer übernehmen die im eroberten Land gesprochene Sprache. Einige Elemente aus ihrer Sprache fließen in diese Sprache ein Beispiele: Einfluss des Fränkischen auf das Französische 'h aspiré' in Wörtern wie hâte, honte, Entwicklung des Indefinitpronomens on (dt. man) obligatorische Setzung des Personal-pronomens beim Verb: je chante wie ich singe Ringvorlesung Sprachspuren WS 2009/10, Zentrum Sprachenvielfalt und Mehrsprachigkeit Prof. Dr. Claudia Maria Riehl
Prof. Dr. Claudia Maria Riehl Adstratwirkung Beeinflussung durch eine andere Sprache infolge lange währender Nachbarschaft Wörter gehen auf "Wanderschaft" vgl. frz. orgueil 'Stolz' Dieses wurde aus dem Fränkischen ins Französische übernommen, dann über das Katalanische weitergegeben an das Spanische Ringvorlesung Sprachspuren WS 2009/10, Zentrum Sprachenvielfalt und Mehrsprachigkeit Prof. Dr. Claudia Maria Riehl
Beispiele aus dem Deutschen Latein german. Zeit: Sachkultur (Mauer, Mörtel, Fenster, Ziegel) Mittelalter: Klosterkultur (schreiben, Tinte, Tafel) Humanismus: Fachsprache Französisch: Mittelalterlicher Hof: Turnier, Tanz 18. Jh.: Mode: Kostüm, Bluse, Weste Englisch Ringvorlesung Sprachspuren WS 2009/10, Zentrum Sprachenvielfalt und Mehrsprachigkeit Prof. Dr. Claudia Maria Riehl
Spuren des Englischen im Deutschen Semantik: buchen (< to book) [Reise] buchen, realisieren (< to realize) wahrnehmen Phraseologie: Das macht Sinn. Morphologie: Das war in 2002 Syntax: Ich hoffe so. Ringvorlesung Sprachspuren WS 2009/10, Zentrum Sprachenvielfalt und Mehrsprachigkeit Prof. Dr. Claudia Maria Riehl
Transfer von Bedeutung Etymologisch miteinander verwandte Begriffe übernehmen die zusätzliche oder andere Bedeutung der Kontaktsprache (1) Jetzt muß der Hund zum Arzt. Um halb drei hat sie ne Absprache gekriegt. [Bsp. Namibia, afr. afspraak 'Verabredung, Termin'] (2) Das an dem See, das ist so lecker. [Bsp. Namibia, afr. lekker 'schmackhaft, herlich'] (3) Das hat aber eine ganz andere Meinung. [Bsp. Australien, engl. meaning 'Bedeutung'] (4) Das Krankenhaus wird jetzt als Business gerannt. [Bsp. Australien, engl. to run 'betreiben'] Ringvorlesung Sprachspuren WS 2009/10, Zentrum Sprachenvielfalt und Mehrsprachigkeit Prof. Dr. Claudia Maria Riehl
Transfer von morphologischen Mustern Übernahme des generischen Reflexivums aus slawischen Sprachen (5) Du hast ja keine Zeit, zum lustig zu machen sich. [Bsp. Russland, Russ 13, statt: dich] Übernahme der Progressiv-Konstruktion aus dem Englischen (6) Er is in die Schtadt an gehe nau [Bsp. Pennsylvania-Dutch, 'he is going to town now'] Ringvorlesung Sprachspuren WS 2009/10, Zentrum Sprachenvielfalt und Mehrsprachigkeit Prof. Dr. Claudia Maria Riehl
Übernahme von Morphemen Illativ-Suffix aus dem Ungarischen (7) Tuars naj a Suppába [Bsp. Ungarn, 'Tu es hinein in die Suppe'] s-Klitikon als Possessivmarker aus dem Englischen (8) seine zweite Kusines Tochter [Bsp. Südafrika, 'His second cusin's daughter'] Ringvorlesung Sprachspuren WS 2009/10, Zentrum Sprachenvielfalt und Mehrsprachigkeit Prof. Dr. Claudia Maria Riehl
Prof. Dr. Claudia Maria Riehl Übernahme Prosodie Frage: welche Sprache spricht diese Informantin? Ringvorlesung Sprachspuren WS 2009/10, Zentrum Sprachenvielfalt und Mehrsprachigkeit Prof. Dr. Claudia Maria Riehl
Sprecherin Erika R., 40 J., Transkarpatien, Ukraine ER: So wie am in Kiew am am Test, fröigan se mich, na, wie wär mer reidna, Ukrainisch oder Russisch? Wieso Russisch? Und no guckt er mir, segt er, no warüm Russisch? No, wu wohn i denn? Sog i, no in ukraini [= ukr./russ. 'Ukraine'], in Karpaten. No wie reida se durt? Sog i, no, aa Russisch, aa Ukrainisch. No, und vot [= russ. 'also'] mer sein in ukraina [= ukr./russ. 'Ukraine'], no so, warüm wer ich Russisch reidna? No sog i, no vor mir id's leichter. No warüm id's leichter? No sog i, i wär net a Schwob, id's leichter Russisch z' reida, net, a [= russ. 'aber'] Ukrainisch sog i, wann ėto [= russ. 'also'] (do) so Wörter in sein, ich versteih nix, sog i. BD: Verstehen Sie, wie sie spricht?
Beispiel Barosa German D: Ein Mann tat äh - auf die Farm arbeiten, ich hab drei an ahalb Milen zur Schule gelaufen und ich war durch durch äh auch Busch- Land Busch, snakes, viele Mal, F: Schlangen D: Schlangen, Sa- F: Eidechsen D: und alle Sachen. Und er tat auch die äh whats a fence? A fence is F: a Saun, Saun D: in die Saun arbeiten und die Schullehrin, die äh - tat, sie war, kam von äh -- F: Scottland, Schottland D: She was Scotch but - now die wohnte äh äh - weiter wie wir waren. Denn sie kam, wenn sie laufen kam äh lang, long the road, dann ka- lief ich mit se, weil des war – F: zur Schule D: zur Schule und - der der Freund hat mir viele Mal nachher tat er mir auslachen und gesagt - die Schulllehrer tat Englisch sprechen und ich tat Deutsch sprechen und er konnt nicht driberhin, dass viele Mal ich - ich tat die Schullehrerin äh antworten, richtig antworten, was was war, aber in Deutsch.
Spuren von Sprache im Gehirn Durch verschiedene Messmethoden kann man feststellen, wie Sprache im Gehirn gespeichert ist Methoden aus der Neurologie Methoden aus der Psycholinguistik Ringvorlesung Sprachspuren WS 2009/10, Zentrum Sprachenvielfalt und Mehrsprachigkeit Prof. Dr. Claudia Maria Riehl
Lokalisierung des Sprachzentrums Die Neurologen Paul Pierre Broca (1824-1880) + Carl Wernicke (1848-1905) stellten Zusammenhang zwischen Schädigungen bestimmer Hirnbereiche und Verlust bestimmter sprachlicher Fähigkeiten fest: Wernicke- Area Broca- Area sylvische Fissur
Neurophysiologische Methoden EEG Magnetresonanz Positronenemissionstomographie (PET) functional magnetic resonance imaging (fMRI) Ringvorlesung Sprachspuren WS 2009/10, Zentrum Sprachenvielfalt und Mehrsprachigkeit Prof. Dr. Claudia Maria Riehl
Gehirnstrommessungen (ERP)
functional magnetic resonance imaging (fMRI)
Vernetzung von Sprache Vernetzungen von sprachlichen Einheiten (z.B. Wörtern) im Gehirn lassen sich durch neurophysiologische Methoden noch nicht feststellen Hier: psycholinguistische Experimente Ringvorlesung Sprachspuren WS 2009/10, Zentrum Sprachenvielfalt und Mehrsprachigkeit Prof. Dr. Claudia Maria Riehl
Prof. Dr. Claudia Maria Riehl Priming-Technik Priming: eines der wichtigsten Verfahren der experimentellen Untersuchung von Sprachverarbeitung Zeitmessungsverfahren, das sich auf Reaktionszeit-Vorteile richtet Es wird gemessen, welchen zeitlichen Vorteil für die Verarbeitung eines bestimmten Zielwortes verschiedene Kontexte mit sich bringen Ringvorlesung Sprachspuren WS 2009/10, Zentrum Sprachenvielfalt und Mehrsprachigkeit Prof. Dr. Claudia Maria Riehl
Prinzipien der Priming-Technik Kontext (= prime) wird präsentiert und kurz darauf das Zielwort (z.B. 'Maus') Darauf wird mit lexikalischer Entscheidung reagiert Reaktion 'ja' sollte umso schneller gehen, je stärker das Zielwort durch den Kontext voraktiviert ist Ringvorlesung Sprachspuren WS 2009/10, Zentrum Sprachenvielfalt und Mehrsprachigkeit Prof. Dr. Claudia Maria Riehl
Beispiel Priming-Experiment WASSER
Beispiel Priming-Experiment WASSER
Stimulus onset asynchrony Variation der SOA ('stimulus onset asynchrony') = Variation des Zeitintervalls zwischen dem Beginn des prime und dem Zielwort hiermit kann Aktivierungsverlauf für bestimmte Begriffe rekonstruiert werden
Prof. Dr. Claudia Maria Riehl Interferenz Hier: Beispiel des Stroop-Tests Durchgeführt von J. R. Stroop (1935): Probanden mussten die Farbe der Tinte benennen, mit denen bestimmte Farbwörter geschrieben waren Stroop stellte für die Wörter, bei denen die Farbe nicht mit der Wortbedeutung übereinstimmte, deutliche Verzögerungseffekte fest. Dies lässt auf Interferenz durch die Wortbedeutung schließen. Ringvorlesung Sprachspuren WS 2009/10, Zentrum Sprachenvielfalt und Mehrsprachigkeit Prof. Dr. Claudia Maria Riehl
Beispiele aus dem Stroop-Test Wasser Baum violett grün zeleny red yellow grey white