Geschichte der Schweizer Heimerziehung

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 Präsentation transkript:

Geschichte der Schweizer Heimerziehung Peter Aebersold 2015

Ursprung: Spittel Heimerziehung ist ein Produkt des 19.Jahrhuderts. Sie knüpfte an die seit dem Mittelalter bestehenden Hospitäler („Spittel“ genannt) an, die zunächst sowohl der Krankenbetreuung, der Armenfürsorge, der Kinder-betreuung und der Versorgung von Asozialen dienten, aber auch als Erziehungsanstalten und als Gefängnisse verwendet wurden.

Differenzierung in 3 Schritten Vom 17.Jahrhundert an wurden in drei Schritten getrennte Abteilungen eingerichtet: Trennung Erwachsene-Kinder > Entstehung von «Waislinkammern» Trennung von Gesunden und Kranken > Gründung von Heilanstalten Trennung zwischen Integrierten und Ab-weichenden > psychiatrische, heilpädago-gische und sozialpädagogische Einrichtungen

Waisenhäuser und Zuchthäuser Vom 18.Jh. an wurden die Waislinkammern verselbständigt. In den Städten entstanden die ersten Waisenhäuser. Die fürsorgerische Aus-richtung wurde durch eine ordnungspolitisch- repressive ersetzt. Waisenhäuser wurden mit Zuchthäusern zusam-mengelegt und mit Produktionsbetrieben verbun-den, wo in der Textilherstellung und in der Land-wirtschaft unter härtesten Bedingungen gearbeitet wurde.

Johann Heinrich Pestalozzi Ende des 18.Jahrhunderts gab es in der Schweiz erst 10 derartige Waisen- und/oder Armenhäuser. Als Pionierleistung gründete Pestalozzi drei päda-gogisch motivierte Einrichtungen, vor allem den Neuhof im aargauischen Birr. Doch wurden sie nach kurzer Zeit wieder geschlos-sen oder in andere Einrichtungen umgewandelt. Sie wirkten vor allem durch die Schriften Pestalozzis nach und nicht im Sinne von Modelleinrichtungen.

Verkostgeldung Weil die Waisenhäuser nicht rentierten, entwickel-te sich in der zweiten Hälfte des 18.Jhs. das „Ver-kostgeldungssystem“. Elternlose Kinder wurden an Markttagen verkostgeldet, d.h. als Kostkinder öffentlich versteigert, mit der Aussicht, dass sie später als Arbeitskräfte eingesetzt werden konnten. Bereits Jeremias Gotthelf kritisierte dieses Verfah-ren als unmenschliche Praxis. Aus der Verkostgel-dung entwickelte sich später das Verdingkindwesen, das bis Mitte des 20.Jahrhunderts aktuell blieb.

Gründungs-Boom im 19.Jh. Motiviert durch das Ziel der Pauperismusbekämpfung wurden im 19.Jahrhudert durch Private 152 Heime eröffnet, die meisten mit religiöser Ausrichtung und streng getrennt für katholische und reformierte Kinder und Jugendliche. Viele Heime wurden von Unternehmern gegründet und führten einen kleinen Fabrikbetrieb, z.B. eine Textilmanu-faktur, in der die Jugendlichen als billige Arbeitskräfte ausgebeutet wurden. Den Höhepunkt erreichte die Gründungsphase zwischen 1850 und 1870. In dieser Periode wurden jährlich zwei neue Heime gegründet.

Fellenbergs Hofwyl International am meisten Beachtung fand das von Philipp Emanuel von Fellenberg 1804 gegründete Hofwyl in Münchenbuchsee bei Bern. Die Einrichtung wurde im Lauf der Jahre zu einem Dorf erweitert, das unterschiedliche Angebote umfasste: Einen Ausbildungsbetrieb für die Landwirtschaft, ein „Wissen-schaftliches Institut“ für Söhne höherer Stände als Inter-nat mit gymnasialem Bildungsgang (das Gymnasium besteht heute noch), eine „Armenschule“ als Erziehungs-anstalt für den niederen Stand, für den aufkommenden Mittelstand später auch noch eine „Realschule“, eine „Mädchenschule“ und eine „Kinderpflegeschule“.

Armenschule als Modell Fellenbergs Erziehungsrepublik wurde schnell als Muster-institution berühmt. Fachleute aus ganz Europa pilgerten nach Hofwyl. Am meisten Interesse fand die Armenschule. Sie wurde von Johann Jakob Wehrli ganz im Sinne von Pestalozzis „veredelter Armut“ geleitet: Das Leben war auf Ent-behrung und Abhärtung ausgerichtet: Die Jugendlichen schliefen auf Pritschen in ungeheizten Räumen, gingen im Sommer barfuss, trugen einfachste, selbst genähte Klei-der und wurden zu 10-12 Stunden harter Arbeit und drei Stunden Schule pro Tag gezwungen.

Luegid vo Bärge und Tal Das Vorbild von Hofwyl war Anlass zur Gründung von zahlreichen Armenschulen nach „Fellenberg-schen Grundsätzen“. Besonderer Wert wurde in der Armenschule auf das gemeinsame Singen gelegt. Josef Anton Henne, der als Lehrer in Hofwyl tätig war, schrieb für die Zöglinge ein „Abendlied der Wehrli-Knaben“, das sich als Volkslied bis heute gehalten hat: „Luegid vo Bärge und Tal“.

Erste Rettungsanstalten Die Armenerziehungsanstalten wurden schon bald ergänzt durch Rettungsanstalten, in denen verwahrloste und gefährdete Kinder aufgenommen wurden. Dort wurden auch Jugendliche untergebracht, die leichtere Delikte begangen hatten. Für Jugendliche, die ernsthafte Straftaten verübt hatten, wurden jedoch noch bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts Körper- und Freiheitsstrafen ausgesprochen, die etwas milder als bei Erwachsenen ausfielen, aber gleich wie bei diesen vollzogen wurden.

Rettungsanstalten mit pietistischer Ausrichtung Auch für die Rettungsanstalten gab es eine Modelleinrichtung: Die von Christian Heinrich Zeller im Auftrag der Basler Christen-tumsgesellschaft gegründete „Freywillige Armenschullehrer- und Armenkinderanstalt in Beuggen am Rhein. Die pietistisch fundierte Erziehung zur praktischen Tüchtigkeit war eingebettet in eine patriarchalisch-christliche Gemeinschaft. Im Vordergrund stand auch hier die landwirtschaftliche Arbeit. Die Anstalt in Beuggen hatte durch die Ausbildung von Armen-lehrern eine grosse Ausstrahlung auf die weitere Entwicklung. Sie war zudem Vorbild für weitere Gründungen, speziell für das Rettungshaus Friedheim im zürcherischen Bubikon.

Staatliche Zwangserziehungsanstalten Da die privaten Rettungsanstalten nur beschränkt „bösgeartete Kinder“ und „jugendliche Verbrecher und Taugenichtse“ aufnahmen, entstanden gegen Ende des 19.Jahrhunderts erstmals staatliche Rettungsanstalten. Der Kanton Bern errichtete drei solche Einrichtungen für Knaben und eine für Mädchen. Nach 1880 wurden auch in andern Kantonen Korrektionsanstalten oder Zwangs-erziehungsanstalten gegründet. Die pädagogische Ausstattung dieser Einrichtungen war noch dürftiger als die der privaten Rettungsanstalten, der Alltag erschöpfte sich für die Zöglinge in Züchtigung und Ausbeutung.

Carl Albert Loosli Die Missstände in den Zwangserziehungsanstalten fanden eine eindrückliche Darstellung in der Schrift „Anstaltsleben – Betrachtungen und Gedanken eines ehemaligen Anstaltszög-lings“ des Schriftstellers Carl Albert Loosli. Loosli war als unehelich geborener Jüngling von 1895 bis 1897 in der Erziehungsanstalt Trachselwald BE eingesperrt. Diese Einrichtung bestand bis 1927 und wurde danach durch das Jugendheim Tessenberg in Prêles abgelöst. Seine traumatischen Erfahrungen schrieb Loosli erst 1924 nieder, weil er beobachtet hatte, dass „wie zu meiner Zeit Kinder körperlich wie seelisch misshandelt und gemartert, für das Leben untauglich und allen spätern Leiden gegenüber wehrlos gemacht“ wurden.

Disziplinarstrafen Was in Trachselwald unter Erziehung verstanden wurde, wird besonders deutlich anhand der Strafen, die laut Loosli exzessiv und willkürlich verhängt und vollzogen wurden: Verweis, verbunden mit Entzug der Mahlzeiten Dunkelarrest bis zu 8 Tagen, in einer ungeheizten Zelle bei Wasser und Brot Prügel mit Weidentressen, wozu der Zögling mit Lederriemen bäuchlings auf eine Bank gefesselt wurde Zwangsjacke, wobei der Zögling in einer verdrehten Stellung stundelang gefesselt wurde; das Verfahren hatte wegen der Muskelanspannung und der Einengung der Atemorgane unerträgliche Schmerzen zur Folge; diese Strafe wurde zudem fast immer mit Dunkelarrest verbunden.

Überholte Zwangserziehungsanstalten Das 1942 im neuen StGB vereinheitlichte Jugendstraf-recht knüpfte an diese Tradition an und vertraute für gefährdete Jugendliche ganz auf die vermeintlich segensreiche Wirkung der Anstaltserziehung. Es stützte sich dabei unkritisch auf die früheren eng-lischen Vorbilder. Dass deren negative Erfolge dort durch die angesehene Howard Association schon seit der Jahrhundertwende regelmässig kritisiert worden waren, wurde nicht zur Kenntnis genommen. Abgesehen von der Grundsatzkritik waren die schwei-zerischen Erziehungsanstalten aber auch in der Ent-wicklung stehen geblieben.

Drill und Gehorsam Zwangserziehung bedeutete noch bis Ende der 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts Einsperren in personell unterdotierten ländlichen Einrichtungen. Im Erziehungskonzept standen die Einübung von striktem Gehorsam und die Gewöhnung an harte und regelmässige Arbeit, meist in der Landwirt-schaft, im Vordergrund. Das eintönige Leben in der Anstalt war eher auf Drill und Disziplinierung als auf eine Förderung von Selbständigkeit und Integration angelegt.

Einweisungen auch in Strafanstalten Besonders blamabel ist zudem die Tatsache, dass bis 1980 (d.h. bis zum Inkrafttreten der ZGB-Revision zum Kinds-recht) nicht nur strafrechtlich verurteilte Jugendliche zur angeblichen Erziehung in Erwachsenen-Strafanstalten untergebracht wurden, sondern sogar zivilrechtlich Ein-gewiesene, die keine Straftaten begangen hatten. Als Gründe wurden ein liederlicher Lebenswandel, Un-gehorsam, Verwahrlosung oder Zigeunerei angegeben. Bei Mädchen war oft eine Schwangerschaft der Anlass, sie wurden genötigt, das Kind zur Adoption freizugeben; wenn sie sich weigerten, wurde es ihnen weggenommen.

Administrative Versorgung Hintergrund dieser Praxis war die sogenannte ad-ministrative Versorgung, d.h. die Tatsache, dass derartige Einweisungen von Administrativbehör-den (meist aus Laien bestehende Gemeinde-Vormundschaftsbehörden) angeordnet wurden. Die Betroffenen hatten keine Möglichkeit, gegen die Einweisung ein Gericht anzurufen. Strebel schätzt, dass über 10'000 Jugendliche auf diesem Weg in Erwachsenenanstalten untergebracht wurden. Lit. Dominque Strebel, Weggesperrt, Zürich 2010

Heimkampagne Die schwer wiegenden Missstände im Vollzug wurden mit der sog. „Heimkampagne“ anfangs der 70er-Jahre einer breiten Öffentlichkeit bewusst. Diese war inspiriert durch die Studenten-bewegung der 68er-Jahre. Den theoretischen Hintergrund lieferte die Randgruppenstrategie von Her-bert Marcuse. Er hatte in seiner Beurteilung der gesellschaftlichen Entwick-lung festgestellt, dass die Arbeiterschaft konsumorientiert, „eindimensional“ geworden war. Der Anstoss zur Erneuerung konnte unter diesen veränderten Voraussetzungen am ehesten von Randgruppen ausgehen. Die wichtigste derartige Randgruppe waren die Studenten. Marcuse erteilte ihnen den Auftrag, sich mit andern Randgruppen wie Psychiatriepatienten, Heimzöglingen oder Gefangenen zu einer solidarischen Bewegung zusam-menzuschliessen. Dieses Bemühen erwies sich allerdings schon bald als nicht realistisch und Marcuse widerrief später die Randgruppenstrategie.

Unterstützung aus der Öffentlichkeit Dass die Heimkampagne eine so starke Wirkung erreichen konnte, lag aber nicht an ihrer klassenkämpferischen Ideologie, sondern daran, dass der Bevölkerung die in den Heimen bestehenden Missstände erst durch deren Öffentlichkeitsarbeit bewusst wurden. Obwohl die Heimkampagne mit Provokationen und teilweise ungesetzlichen Mitteln vorging, fanden ihre Aktionen bis weit ins bürgerliche Lager Unterstützung. Das zeigte sich etwa 1971 bei der Flucht von 17 Zöglingen aus der Arbeitserziehungsanstalt Uitikon.

Medienecho Die Aktionen der Heimkampagne richteten sich neben Uitikon vor allem gegen die Erziehungsanstalt Tessenberg BE, das Erziehungsheim Platanenhof SG und die Arbeits-erziehungsanstalt Kalchrain TG. Sie fanden in den Medien ein breites Echo, insbesondere im Blick, im Beobachter, in der Illustrierten „Sie und er“, und in der Jugendzeitschrift „team“. Das Gottlieb-Duttweiler-Institut in Rüschlikon führte im Dezember 1970 eine viel beachtete Tagung durch, an der über die Frage debattiert wurde: „Sind Erziehungsanstal-ten noch zeitgemäss?“

Neue Angebote Die Heime wehrten sich zunächst gegen die massive Kritik, doch bewirkte der öffentliche Druck in den 70er und 80er-Jahren eine tief greifende Reform. In der Deutschschweiz entstanden neue sozialpädago-gische Angebote mit Familiencharakter (heilpädago-gische Pflegefamilien, sozialpädagogische Wohn-gemeinschaften etc.), die sich als Alternative zur traditionellen Heimerziehung verstanden. Aber auch die Heime selbst erneuerten sich von Grund auf.

Heimreform Die Heime stellten neues, sozialpädagogisch aus-gebildetes Personal ein und untergliederten die Heimstruktur in kleine familienähnliche Wohn-gruppen. Sie modernisierten ihre Berufsbildungsbetriebe und realisierten therapeutische Angebote. Die zuvor praktizierte Abschottung wurde abgelöst durch eine auf Öffnung und institutionelle Einglie-derung ausgerichtete Heimstrategie.

Neue Tendenzen Aktuell versuchen die Institutionen von dem von der Kinderrettungsbewegung geprägten Familienmodell wegzukommen: «Heime» nennen sich neuerdings «Jugendzentren» oder «Jugendeinrichtungen», sie bieten unterschiedliche, bedürfnisorientierte Angebote an und beziehen vermehrt die Familien ein. Zudem gibt es intensive aufsuchende oder teilstationäre Angebote, die stationäre Angebote in vielen, aber nicht in allen Fällen ersetzen. Die Zahl der Einweisungen ist dadurch in den letzten Jahren zurückgegangen.