Eine neue Perspektive auf Wichern?!

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 Präsentation transkript:

Eine neue Perspektive auf Wichern?! Der systemtheoretische Blick a) ideenpolitischer Säkularisierungsbegriff: religiöse Ideen und Werte treten in Konkurrenz zu Ideen und Werten der europäischen Aufklärung => Problem theoretischer Anschlußfähigkeit, Anpassung oder Nichtanpassung; begründungstheoretische Innovationen nötig b) strukturgeschichtlicher Säkularisierungsbegriff: religiöse Ideen und Werte spielen in großen Teilen der Gesellschaft keine Rolle mehr. => Problem der Praxisfähigkeit, strukturelle Anpassung durch Neuverortung der Religion und Expansion in Leistung

Eine neue Perspektive auf Wichern?! Der systemtheoretische Blick 1. Rezeptionsgeschichtlicher Abriß 2. Kritik an der Wichernkritik 2.1 Wicherns christentumspolitisches Programm 2.2 Volkspädagogik als soziale Reformation 2.3 Christentumspolitik unter Konkurrenzbedingungen 3. Systemtheoretische Wicherndeutung 3.1 Religion im altkirchlichen Modell 3.2 Religion unter Bedingungen funktionaler Differenzierung 3.3 Systemtheoretische Bewertung der Wichernschen Programme

1. Rezeptionsgeschichtlicher Abriß a) Beyreyther: Wichern wird nur vor dem Hintergrund seiner eigenen Zeit und seiner eigenen Gedankenwelt betrachtet (rein verstehende Perspektive). => über die Verwendbarkeit der Ansätze Wicherns heute kann nicht entschieden werden. b) Wichernkritik von Gerhardt bis Brakelmann: Wichern hat keine klaren sozialpolitischen Forderungen, hat kein positives Verhältnis zur Arbeiterbewegung, hat keine systemsprengenden Konsequenzen gezogen.

Brakelmann: Grund dafür ist Wicherns theologische Unfähgkeit zum Umgang mit der Säkularisierung (im Sinne eines ideenpolitischen Säkularisierungsbegriffs). => Wichern hat den Protestantismus an den Rand der modernen ideen- und politikgeschichtlichen Entwicklung gebracht; er gehört in das konservativ-reaktionäre Syndrom von Thron und Altar. Für eine moderne Sozialethik ist Wichern nicht verwendbar.

2.1 Wicherns christentumspolitisches Programm Sozialpolitische Kategorien eignen sich nur bedingt, um Wichern zu verstehen, denn Wicherns Programm einer inneren Mission ist in erster Linie kein sozialpolitisches, sondern ein christentumspolitisches Programm. Wichern will in erster Linie nicht die soziale Frage lösen, sondern das Problem der Entkirchlichung. Die Lösung der sozialen Frage ist lediglich das Vehikel, mit dem eine Reetablierung des Christentums erreicht werden soll. Erreicht werden soll dies durch die Verbindung von Verkündigung mit sozialer Dienstleistung. Auf diese Weise wird die praktische Wahrheit des Christentums unter Beweis gestellt.

“Notstände” (1843): “Wir verstehen unter der inneren Mission eine geordnete Arbeit der gläubigen Gemeinde in freien Vereinen und zwar diejenige Arbeit, mit welcher der Wiederaufbau des Reiches Gottes […] bezweckt wird.” “Die innere Mission schließt ebenso wesentlich in sich das Bekenntnis des Glaubens durch die Tat der rettenden Liebe, als sie den allgemein priesterlichen Charakter […] bekundet.”

2.2 Volkspädagogik als soziale Reformation

Anhorn: Wichern setzt seine “mit weitreichenden gesellschaftlichen Ansprüchen verbundene […] Konzeption in wesentlichen Stücken mit Mitteln ins Werk […], die einer entwickelten bürgerlich-liberalkapitalistischen Gesellschaft weit eher angemessen” sind “Als den in Auflösung begriffenen ständisch-patriarchalen Ordnungsstrukturen, zu deren Restitution und Stabilisierung er letzten Ende dem eigenem Selbstverständnis nach angetreten” ist. In den konkreten pädagogischen und sozialpädagogischen Programmen Wicherns zeigt sich ein “schlüssiges, den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen und (sozial-) pädagogischen Möglichkeiten genuin angepaßtes Konzept”.

2.3 Christentumspolitik unter Konkurrenzbedingungen Wicherns christentumspolitischen Ideale fußen auf der zunächst vormodernen Vorstellung von Religion als festem Band normativer Ideen um die Gesellschaft.

3.1 Religion im altkirchlichen Modell (nach Luhmann) Religion ist ursprünglich identisch mit der Gesellschaft als Summe möglicher Kommunikationen überhaupt. Religion muss sich aber gegen Beliebigkeit schützen und deshalb selbst ausdifferenzieren.

3.1 Religion im altkirchlichen Modell (nach Luhmann) => Neben dem Religionssystem entstehen Systeme für Wirtschaft, Politik, Recht, Bildung usw., die zwar innerhalb des religiösen Rahmens operieren, aber für besondere Probleme spezialisiert sind (funktionale Differenzierung).

3.1 Religion im altkirchlichen Modell (nach Luhmann) => In den Einzelsystemen fällt immer weniger Bedarf an weltanschaulicher Deutung an. => Das Religionssystem reagiert darauf mit einer Expansion in Moral, indem es den übergreifenden gesellschaftlichen Rahmen moralisch interpretiert. Das ist das altkirchliche Modell.

3.2 Religion unter Bedingungen funktionaler Differenzierung Im weiteren Verlauf der gesellschaftlichen Entwicklung koppeln sich die Einzelsysteme zunehmend von einem übergreifenden Rahmen ab und bilden unabhängige Spezialcodes aus.

3.2 Religion unter Bedingungen funktionaler Differenzierung Folgen der funktionalen Differenzierung für die Gesellschaft: 1.) Es gibt kein gemeinsames normatives Band der Gesamtgesellschaft mehr, weil eine gesamtgesellschaftliche Inklusion nicht mehr stattfindet. 2.) In die Funktionslogik (Codes) der einzelnen Teilsysteme kann nicht mehr unmittelbar eingegriffen werden (etwa durch moralische Appelle).

3.2 Religion unter Bedingungen funktionaler Differenzierung Folgen der funktionalen Differenzierung für die Religion: 1.) Religiöse Deutungen müssen an die anderer Systeme nicht mehr theoretisch anschlußfähig sein (Anpassungsdruck sinkt). 2.) Religion muss sich intern weiter ausdifferenzieren und spezifische Angebote entwickeln. => ideenpolitische Anpassungen werden kontraproduktiv. 3.) Religion muss Praxisfähigkeit gewinnen (anwendungstheoretische Innovation), d.h. neue Formen für die gesellschaftliche Kommunikation ihrer Inhalte entwickeln.

4.) Religion muss sich wie die anderen Systeme auch differenzieren in den Bezug zu sich selbst (Funktion), den Bezug zu anderen Systemen und der Gesamtgesellschaft (Leistung) und in den Rückbezug der Leistung auf die Funktion (Reflexion).

5.) Da die anderen Teilsysteme nicht mehr religiös kommunizieren, müssen religiöse Deutungen mit Leistungen verbunden werden und selbst als Leistungen definiert werden können. => Das Religionssystem reagiert auf einen drohenden Bedeutungsverlust mit einer Expansion in Leistung, also einer Expansion in Diakonie.

Strukturgeschichtliche Modernität Wicherns: 3.3 Systemtheoretische Wicherndeutung Strukturgeschichtliche Modernität Wicherns: Wichern erkennt, dass das Entkirchlichungsproblem nicht in den Inhalten, sondern den Verkündigungsformen liegt. Wichern will praktische Wahrheit durch die Verbindung von Verkündigung mit Leistung erreichen. Im Konzept der inneren Mission bleibt Religion spezifisch und von Politik und Ökonomie verschieden. Die innere Mission enthält sich unmittelbarer Eingriffe in die Logik anderer Systeme und formuliert statt dessen alternative Deutungsofferten, die sie selbst als Leistungen interpretiert.

Wicherns Konzepte überwinden das altkirchliche Modell von Religion, indem sie Religion an der Schnittstelle von System und Lebenswelt verorten und Religion einen Status als intermediäre Institution sichern. Wicherns Konzepte entsprechen damit genau den Anforderungen, die Luhmann an Religion in einer funktional differenzierten Gesellschaft stellt: Sie verbinden eine eigene Differenzierung des Religionssystems mit einer gleichzeitigen Expansion in Leistung.

Vorteile einer systemtheoretischen Deutung Wicherns: Die Modernität seines christentumspolitischen Konzepts wird sichtbar. Höhere Differenzierungen hinsichtlich der sozialgeschichtlichen Einordnung Wicherns werden möglich. Wichern kann im Kontext von Fragen der gesellschaftlichen Relevanzsicherung von Religion, der diakonischen Ausrichtung von Religion unter Bedingungen von Konkurrenz und des Verhältnisses von Diakonie und Religion interpretiert werden.

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