Workshop Nr. 1 Jugendstrafrechtliche Beurteilung Fallbeispiele Anita Zbinden, Jugendanwältin Berner Jura – Seeland Andreas Schild, Jugendanwalt Emmental.

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 Präsentation transkript:

Workshop Nr. 1 Jugendstrafrechtliche Beurteilung Fallbeispiele Anita Zbinden, Jugendanwältin Berner Jura – Seeland Andreas Schild, Jugendanwalt Emmental – Oberaargau

 die Mutter von K (noch nicht ganz 12-jährig) kontrolliert das Handy ihrer Tochter  K & M (17-jähriger Gymnasiast) haben sich am Nachmittag am Domizil von K zum GV verabredet  Mutter von K sichtet Nacktfotos und –Videos von K & M  Mutter von K erstattet bei der Kantonspolizei Burgdorf Meldung  Zivilfahnder nimmt M beim Aussteigen aus dem Bus fest  M wird auf dem Posten einvernommen  Mutter bring ihre Tochter ebenfalls auf den Polizeiposten

 K & M lernten sich 3 Tage zuvor auf der Flirtinternetseite «lovoo» kennen  Kommunikation wurde auf Whatsapp weitergeführt  :50 Uhr bis :00 Uhr insgesamt 816 Whatsappnachrichten  Schon ganz zu Beginn der Konversation ging es zur Sache

MHey heisse Braut! MWie geht’s MIch bin’s. Der mit der Latte wegen Dir

KDu weißt, ich werde erst 12, bin aber echt pervers MIch bin 17 und auch pervers KJa sicher MHast Du Dir unten schon mal was reingesteckt? KJa sicher MWas denn? KIch weiss, es klingt scheisse. Aber ich hab versucht, den Vibrator meiner Mutter reinzustecken…. KMax? KMaaaaax? KMax! Wieso schribsch mer itz nüm???? KNur weil es der Vibrator meiner Mutter ist? Mein Gott, ich wasch den! Ach du dickes Ei!

KMax! Dann such ich mir halt andere, die mir plötzlich nicht einfach so nicht mehr schreiben….. KBah, ich hab mich sooo auf unser Treffen gefreut MEs würd ei Methode gä, wi mir es morn villech chönnte mache KMau versueche? MDas wär drum anal KOk! Wi isch nomau anal? MAnal isch Arsch

KSchicksch mer nomal es Foto? Vo Dim Schwanz? MHesch dr Vibrator no? KJa MChasch es Video mache? Wo Du Dir es sälber machsch? KJa MBis Du zum Orgasmus chunssch? KIsch das müglech…??? MDu bisch geil! I bi grad wege Dir cho KDanke

MIch bin unterwegs! Bin schon im Bus! KKondom dabei? Bin nervös! Weißt Du, wo Du aussteigen musst? KMax??? Fuck!

 Zum Treffen kam es nicht  K schickte M zwei Fotos und 2 Videos von sich, auf welchen sie explizit ihren Genitalbereich darstellte und masturbierte  M schickte ebenfalls Bild- und Videomaterial von sich an K.

 Zur Erinnerung: EV und Strafbefehl  November 2013: K zeigt ein Video mit (damals) verbotener Pornografie ihren Klassenkameraden  Was nun?

 Die Schulsozialarbeiterin meldet am bei der Polizei, dass in einem Klassenchat ein Foto kursiere, auf welchem ein 14-jähriges Mädchen beim Oralsex abgebildet sei. Das Mädchen sei bekannt (M), der Junge sei zwar nicht erkennbar, es könnte sich aber um D handeln. Es sei nicht auszuschliessen, dass M dazu gezwungen worden sei.

 M wurde am bei der Polizei befragt: - es stimme, sie habe D im Frühling oral befriedigt - sie kenne die Person, die das Foto geschossen hat, nicht, dieser sei plötzlich und unerwartet dazugekommen - sie habe erst später erfahren, dass das Foto im Klassenchat kursiere - die orale Befriedigung sei im gegenseitigen Einverständnis und bei klarem Bewusstsein passiert

 D wurde am polizeilich befragt: - D gestand sofort den Sachverhalt - E sei derjenige gewesen, der das Foto gemacht habe - M habe im Anschluss daran auch E befriedigt - es sei die Idee von E gewesen, das Foto zu machen - E habe das Bild an D und M und wohl habe D das Foto an den «Brother-Chat» geschickt - Irgendwann tauchte dann das Foto im Klassenchat auf

 2. Befragung von M am Konfrontiert mit den Aussagen von D gab sie zu, dass sie E kenne, er sei auch dabei gewesen und sie habe ihn nach D auch oral befriedigt, freiwillig, ohne Einfluss von Alkohol/Drogen - Wer das Foto gemacht habe, wisse sie nicht - D habe glaublich das Foto an den «Brother- Chat» geschickt, sie sei damit einverstanden gewesen - sie wisse nicht, wer das Bild an den Klassenchat geschickt habe

 E wurde gleichentags auf den PP bestellt: - Die Geschichte von M und D stimme - Er habe das Foto auf die Handys von D und M geschickt, anschliessend habe er das Foto gelöscht, da seine Schwester dasselbe Natel benutze - D habe wohl das Foto an die «Brother- Gruppe» geschickt - er wisse nicht, wie das Foto in den Klassenchat gekommen sei

 Auswertung der Natels: - es wurden keine verbotenen Sequenzen gefunden - das Natel von M wurde vor längerer Zeit vom Vater konfisziert, daher wurde es nicht ausgewertet  Was soll mit den Handys passieren?

 Bei der JugA bestätigte E die bei der Polizei gemachten Aussagen  M habe wohl nichts vom Fotografieren gemerkt, es sei vorher mit ihr nicht abgesprochen gewesen, sie habe die Augen geschlossen gehabt  Er denke nicht, dass D sofort bemerkt habe, dass E ein Foto gemacht hat  E hat das Foto an D und M, D habe es dann an den «Brother-Chat» geschickt

Fallerledigung durch die JugA  M: Nichtanhandnahme, da sie wohl nichts vom Fotografieren gemerkt hat – nicht Mithelfen bei «Herstellung von Kinderpornographie»  D: Strafbefehl wegen Inverkehrbringen von Kinderpornographie («Brother-Chat»)  E: Herstellung und Inverkehrbringen von Kinderpornographie (+ weitere Delikte)  War dies die richtige Entscheidung?

Vorbemerkungen:  Wer Täter und wer Opfer ist, lässt sich aus juristischer Sicht anhand des Wortlauts der Strafnorm bestimmen ---  Täter ist, wer durch sein Verhalten einen Straftatbestand erfüllt, Opfer ist, wer durch die Straftat in ihren Rechten beeinträchtigt wird  Es handelt sich dabei um die Frage, wen das Gesetz schützen will (Opfer) und wen es kriminalisieren soll (Täter)

 Die Hilfe für von einem möglichen Sexting- Missbrauch betroffenen Jugendlichen hängt unter dem Damoklesschwert einer möglichen strafrechtlichen Verurteilung  Eine solche Strafbarkeit erscheint fragwürdig, da die Bilder vom Betroffenen selbst hergestellt und nicht von einem Erwachsenen dokumentiert werden  Auch Selbstaufnahmen von Minderjährigen fallen unter das Verbot der Kinderpornografie

 Jugendlichen, denen die strafrechtlichen Risiken bewusst sind, werden sich vor einer Selbstanzeige fürchten  Einerseits will man Minderjährige vor Ausbeutung schützen, andererseits kriminalisiert man sie  Neuerdings ist auch der Konsum von Kinderpornografie strafbar -  streng genommen würden sich auch die beratenden Personen strafbar machen, welche das Handy sichten  Nach der Logik des Gesetzes machen sich sogar 10-Jährige wegen Kinderpornografie strafbar. Dabei will das Gesetz doch gerade Kinder schützen, da ja zumeist Kinder die Opfer von Kinderpornografie sind  Bestraft man sie, so werden sie zugleich zu Tätern

 Präventive und erzieherische Überlegungen sind mit Blick auf eine allfällige Sanktionierung von Jugendlichen stärker zu beachten, als wenn die Person volljährig wäre (Art. 2 JStG + Art. 4 JStPO).  Strafbefreiung nach Art. 21 JStG setzt ein tatbestandsmässiges, rechtswidriges und schuldhaftes Verhalten voraus  Verfahrenseinstellung und Strafbefreiung = Opportunitätsgestützte und im Einzelfall anpassungsfähige Instrumente --  Die Vorgehens- und Erledigungsweise ist für die Jugendlichen kaum abschätzbar  Jugendliche verbleiben zumindest in der Anfangsphase im Dunstkreis der Täterschaft. Verträgt sich diese Rollenzuteilung mit den Schutzbedürfnissen den von Sexting-Missbrauch betroffenen Jugendlichen?

 Begriff: 3 Gruppen  In jedem Fall straflos bleibt – unabhängig von der konkreten Mitwirkung – derjenige, den der entsprechende Straftatbestand schützen will.  Die Schutzwürdigkeit ist stärker zu gewichten als die Mitverantwortung des Opfers  In Bezugnahme auf die notwendige Teilnahme sollte diejenige Person, die als schutzwürdig angesehen wird, nicht zum Täter gemacht werden

 Zentrales Rechtsgut des Verbots von Kinderpornografie (Art. 197 Abs ) ist die ungestörte sexuelle Entwicklung von Kindern. Welche Kinder? Die Konsumenten oder die Darsteller?  Abs. 1 schützt die Konsumenten, also kann es beim Schutz von Abs nur um die Darsteller gehen (ausser man argumentiert mit der «korrumpierenden Wirkung»)  Durch das Ersetzen des Begriffes «Kind» durch denjenigen des «Minderjährigen» im Gesetztestext ändert sich gleichsam die Optik des Schutzzwecks: wurde beim Begriff des Kindes nicht bloss auf das Alter, sondern auch auf den pädophilen Charakter abgestellt, so hiess dies im Kern nichts anderes, als den Schutzzweck der Norm aus den Interessen Betrachters – konkret: der Befriedigung seiner pädophilen Neigungen - herzuleiten.

 Wenn nun – wie es in der Botschaft heisst – «Personen bis zum vollendeten 18. Lebensjahr einen strafrechtlichen Schutz vor der Mitwirkung bei sexuellen Handlungen geniessen» sollen, so erfolgt dadurch der Perspektivenwechsel, als die Darsteller in den Fokus des Schutzzwecks rücken.

 Art. 197 Abs. 4+5 StGB schützt die jugendlichen Darsteller kinderpornografischen Materials in den sexualbezogenen Aspekten ihrer Persönlichkeitsrechte  Das Verbot der Kinderpornografie hat den Zweck, die minderjährigen Darsteller zu schützen

 Ein Beteiligter bleibt – ungeachtet seiner Mitwirkung – straflos, wenn der Straftatbestand, den er verwirklicht, gerade ihn schützen will!  Der Schutz der Opfer der Folgegefahren von Sexting muss höher gewertet werden als ihre Verantwortlichkeit für die Herstellung von Kinderpornografie  --  Sexting sollte für Minderjährige somit dann straflos bleiben, wenn das Geschehen auf dem Einverständnis sämtlicher (mehr oder weniger gleichaltriger) Beteiligter beruht

 Diese Norm schafft einen Ausnahmetatbestand für 16 – 18-Jährige.  Somit gilt das Verbot der Kinderpornografie bei minderjährigen Tätern nicht absolut  Was ist mit den unter 16-Jährigen? Diese haben ein verstärktes Schutzbedürfnis, damit ein geringeres Strafbedürfnis, daher sollten sie erst recht straflos bleiben  Der verstärkte kinderpornografische Charakter ihrer Darstellungen aufgrund des jüngeren Alters dürfte nicht genügen, um ihre grössere Schutzbedürftigkeit aufzuheben

 197 Abs. 1 StGB: Der mit Pornografie Konfrontierte bleibt straflos (Rolle als Schutzbedürftiger)  Die Kriminalisierung des blossen Konsums harter Pornografie richtet sich nicht zuletzt gegen die Befriedigung pädophiler Neigungen  Die sexuelle Vorliebe für Kinder stellt definitionsgemäss jedoch nur dann Pädophilie dar, wenn derjenige, der solche Vorlieben hat, erwachsen oder zumindest deutlich älter ist….  Ist der Betrachter selber minderjährig, erhalten solche Bedürfnisse plötzlich eine ganz andere Bedeutung….  Art. 1 Abs. 2 JStG

 Quelle: Sexting bei Jugendlichen – eine strafrechtliche Analyse von Micha Nydegger in Recht 2015 S. 40