Heldenlied und Heldenepos im deutschen Mittelalter (9. -16

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 Präsentation transkript:

Heldenlied und Heldenepos im deutschen Mittelalter (9. -16 Heldenlied und Heldenepos im deutschen Mittelalter (9.-16. Jahrhundert)

Süddeutsche Zeitung, Februar 2009: Der Europaabgeordnete Gauweiler klagt zum Bundesverfassungsgericht gegen die Annahme des Lissabon-Vertrags

Der Schweizer Bundesrat Ueli Maurer stimmt als Einziger für die Bewahrung des Bankgeheimnisses gegen die Auflagen der USA und der EU.

In der Schlacht von Sempach (1368): die Eidgenossen gegen die Habsburger. Der Schweizer Held Winkelried lenkt die Lanzen der Gegner auf sich, um den Eidgenossen den Durchbruch durch die gegnerischen Linien zu ermöglichen. Zürich, Tagesanzeiger, März 2009).

Begriffe, Kategorien, Grundlagen Erinnern als zentrales Merkmal menschlicher Existenz: das sich a) synchron der Gesellschaft mitteilt; b) diachron über die Lebensspanne des Einzelnen hinausreicht. Kulturelles Gedächtnis (J. Assmann, LV 55) a) als kommunikatives Gedächtnis in der Interaktion des Alltags, mit mitwanderndem Zeithorizont von ca. 80-100 Jahren; b) kulturelles Gedächtnis: „hochgradig gestiftet“; bezogen auf die von der Gegenwart abgesetzten Kultur einer fernen Vergangenheit.

Gedächtniskultur in der Erzähl-Überlieferung Menschliches Gedächtnis als intellektueller Speicherort Mündlichkeit als Transportmittel Kollektive Erinnerung der Gemeinschaft: „das, was immer schon gewusst war/erzählt wurde“ (s. Nibelungenlied Str. 1: Uns ist in alten maeren wunders vil geseit). Bewahrt und getragen von Spezialisten (Assmann: Priesterkaste) im Auftrag der Gemeinschaft. Ziel und Zweck: Stiftung gemeinschaftlicher Identität durch gemeinsames/kollektives Erinnern.

Stoff - Heldensage - Heldendichtung a) Historische Ebene: Namen, evtl. damit verbundene Handlungszüge b) mythologische/märchenhafte Ebene: übermenschliche Kraft; Drachenkampf; Brautwerbung: Gewinnung einer Frau; überstarke Frau/Mann; Heilbringer […]. c) Ethische Komponenten/Affekte: Liebe, Eifersucht, Hass, Habgier, Rache, Machtstreben […].

Heldensage Sage: konventionalisierte, von der Gemeinschaft akzeptierte Verknüpfung historischer und mythologisch-märchenhafter Komponenten; Form: ungeformte Stofflichkeit, aufgehoben in einem allgemeinen Wissen um bestimmte Erzählkonventionen, die sich a) an Namen bindet, die mit bestimmten Handlungen verknüpft sich (Rache, Bruder-/Gattenmord, Drachenkampf etc.); b) die mit überzeitlichen menschlichen Affekten ausgestattet sind: Liebe, Eifersucht etc. Dadurch ist Heldensage jederzeit aktuell.

Heldendichtung: a) Heldenlied Heldenlied: vom Autor/Sänger/Dichter geformte Sage (Stabreim, Strophe, Reimpaar, Prosa) . Vorausgesetzt: umfassendes Sagenwissen innerhalb der Gemeinschaft. Literarische Eigenschaften des Heldenlieds: episodenhafte Ausschnitthaftigkeit; Gegenstand des Lieds ist nur ein Ausschnitt der „Welt der Helden“ (Beispiel: Lieder der Edda [reclam] oder das ‚Hildebrandslied‘). Gerüsthafte Erzählweise; Formelhafte Sprache; Betonung der Figurenrede; Erzähler nicht im Mittelpunkt.

Heldendichtung: b) Heldenepos/-saga Nach und neben dem Lied entwickelt. Ausschnitthafte Darstellung der Welt der Helden; Sagenwissen der Gemeinschaft wird vorausgesetzt Breitere Darstellung mit Handlungsmotivationen der Figuren und Verknüpfung mehrerer Episoden zu größeren Handlungszusammenhängen. Beipiele: Nibelungenlied; Dietrichepen; skandinav. Sagaliteratur des 13./14. Jahrhunderts

Oralität vs. Scripturalität Schriftlichkeit als Speicherort für kulturelles Gedächtnis. Beispiel: Einhard, ‚Vita Karoli magni‘ (um 830), c. 29 über die mündl. tradierten Gesetze der Franken: Quae scripta non erant describere ac litteris mandare fecit. Ebd. zu den mündlich tradierten Heldenliedern: Item barbara et antiquissima carmina, quibus veterum regum actus et bella canebantur, scripsit, memoriaeque mandavit. (sog. Heldenliederbuch Karls d. Gr.; nicht erhalten).

Reflexe mündlich vorgetragener Heldenlied-Dichtung Beispiel: ‚Annolied‘ (um 1080; Preislied auf den Kölner Erzbischof Anno) Prolog: Abwehr der alter Lieder von Helden und Königreichen Wir hôrten dikke singen von alten dingen, wî snelle helide vuhten, wî si veste burge brêchen, wî sich liebin vuiniscefte schieden, wî rîche kunige al zegiengen. Weitere Zeugnisse: W. Grimm, Dt. Heldensage (LV 41)

Das Material: Textbestand „Aventiurehafte“ („märchenhafte“) Dietrichepik (belegt ab etwa 1220); aus diesem Kreis auch das ‚Hildebrandslied‘ (8./9. Jh.) ‚Nibelungenlied‘ und ‚Klage‘ (um 1180/1200); ‚Hürnen Seyfried‘ (14. Jh.?) Walther-Dichtungen (‚Waltharius‘; ‚Walther und Hildegund‘) ‚Kudrun‘ Sonstige Texte

Der umfangreichste Komplex: Dietrich von Bern/Theoderich d. Gr. Sagengestalt mit dem Namen der bedeutendsten hist. Gestalt der Völkerwanderungszeit: der Ostgotenkönig Theoderich d. Gr. (*453/55; † 526); 488 Aufbruch der Ostgoten nach Italien Theoderich besiegt den weström. Kaier Odoaker 489/90 und ermordet ihn eigenhändig. 526 Th. Stirbt: Grabmal in Ravenna 30 Jahre später: Ostgoten werden in Italien vernichtet. Die Theoderich-Tradition verläuft in den folgenden Jahrhunderten in zwei Bahnen: a) in der gelehrten griech. und lat. Geschichtsliteratur; b) unterliterarisches Erzählen von Th. In den Volkssprachen, das nur den Namen übernimmt, ansonsten aber frei mit den hist. Daten umgeht.

Grabmal Theoderich d.Gr. in Ravenna

Sarkophag des Theoderich im Grabmal in Ravenna

Theoderich Dietrich Geschichte Sage Um 375 Einfall der Hunnen in Europa Ermanarich, Ostgotenkönig †393,ca. 60 J. vor Th.s Geburt Hunnenkönig Attila (ca. 400-453) Theoderich (453/55-526) ermordet Odoaker Dietrich von Bern wird von seinem im J. 489 Onkel Odoaker aus seinem Reich „Bern“(= Verona) vertrieben; flieht vor der Übermacht seines Onkels ins Exil zum Hunnenkönig Etzel (Attila). Mehrere Versuch der Rückkehr Die Sage verschiebt die geschichtlichen Zusammenhänge und rückt entfernte Gestalten zusammen zu neuen Personen- und Handlungskonstellationen.

Dietrich in der Heldendichtung: Dietrichepik Zwei Gruppen: a) „aventiurehafte“ („märchenhafte“) und b) historische Dietrichepik. Zu a) Aventiure als Handlungsmuster (Vorbild: höfischer Roman, z.B. ‚Erec‘, ‚Iwein‘). Gegenstand: Jugendgeschichten Dietrichs vor seiner Vertreibung. Kämpfe mit Riesen, Zwergen, Ungeheuern; Frauendienst. Tödliche Gefahren werden stets durch kämpferische Leistung abgewehrt. Zu b) Gegenstand ist Dietrich im Exil, seine Rückkehrversuche (einzubeziehen: ‚Hildebrandslied‘; ‚Nibelungenlied‘ und ‚Klage‘).

Die Welt der Helden: Vernetzungen der Stoffkreise der Heldendichtung Nibelungen (mit Dietrichkreis verknüpft: Dietrich im Exil bei Etzel) Walther/Waltharius: Vernetzung mit Etzelhof; mit den Burgundern in Worms Kudrun (nur im deutschen Epos um 1230/50; kaum Vernetzungen zu anderen Heldenkreisen)

Wer sind die Verfasser der Heldendichtung? Die romantische Vorstellung der Zeit um 1800, „das Volk dichtet“, ist ad acta gelegt. Verfasser/Autor stets personalisiert zu sehen. Zahlreiche Zeugnisse für fahrende Sänger; höfisches Unterhaltungspersonal: soziale Spanne vom unehrenhaften Volk bis zum Niederadel. Namen durchweg unbekannt: generelle und gattungstypische Anonymität der Heldendichtung. Ausnahmen: der Sänger Siward, von dem Saxo Grammaticus berichtet; Albrecht von Kemenaten (->VL), Verf. des ‚Goldemar‘(?). Personalisiert sind neben den unbekannten Autoren auch die Aufschreiber zu denken, die die Dichtung zu Pergament bringen, und die Redaktoren/Bearbeiter, die die Dichtungen zeitgemäßen Vorstellungen entsprechend bearbeiten.

Inhalt – Erzählgegenstände der Heldendichtung Haubrichs (LV 29): „die Tradition und Dichtung der Krieger und die Taten der herrscherlichen Adelsgeschlechter“ vgl. Einhard, Vita Karoli: veterum regum actus et bella; NL Str. 1: Uns ist in alten maeren wunders vil geseit von helden lobebaeren, von grozer arebeit, von fröuden, hochgeziten, von weinen und von klagen von küener recken strîten […]. -> Heldisch: Die Faszination des Außerordentlichen

Drei wesentliche Konstruktionsschemata (Haubrichs, LV 29, S. 106) a) Begegnung mit Ungeheuern oder Wesen der „anderen Welt“. b) Fabeln von der Verletzung und Wiederherstellung der Rechtsordnung; c) Tragische oder versöhnliche Inszenierungen von Wertkonflikten

Formmerkmale der Heldendichtung Älteste Überlieferung: ‚Hildebrandslied‘ (Handschrift um 830): Stabreim, vorgetragen in einer Art emphatischem Sprechgesang. Alte Edda-Lieder (9./10. Jh.): Strophen; sangbarer Vortrag. Heldendichtung 12./13. Jh.: sangbare, gesungen vorgetragene Strophen. Töne: NL; Hildebrandston; Berner-Ton (Melodieüberl. S. Brunner, LV 49-51). 15. Jh.: z.T. Umsetzung in Prosa; daneben bleibt die Strophik auch in der Drücküberlieferung erhalten. Bis zum 15. Jh. keine Lesedichtung. Heldendichtung lebt in der Aufführung.