Auswirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise auf die Behindertenhilfe Mülheim a.d.R., 29.09.2009 Dr. Thomas Bröcheler Stiftung Haus Hall, Gescher.

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Auswirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise auf die Behindertenhilfe Mülheim a.d.R., 29.09.2009 Dr. Thomas Bröcheler Stiftung Haus Hall, Gescher

Finanzkrise, Wirtschaftskrise, Sozialkrise Finanzierung der Behindertenhilfe in NRW Situation der Kommunen Auswirkungen auf die Behindertenhilfe Handlungsmöglichkeiten

1. Finanzkrise, Wirtschaftskrise, Sozialkrise Finanzmarktkrise: Schlüsselereignis der Finanzmarktkrise war der Zusammenbruch der Bank Lehmann Brothers in den USA am 15.09.2008. Finanzmarktkrise begründet in notwendigen Wertkorrekturen insb. für verbriefte Kreditgeschäfte. Hintergrund: geplatzte Immobilienblase in den USA.

Finanzkrise schlägt auf die Realwirtschaft durch Wirtschaftskrise: Finanzkrise schlägt auf die Realwirtschaft durch Exporte der deutschen Wirtschaft um durchschnittlich 15 % eingebrochen Investitionstätigkeit der Unternehmen um 22 % gesunken Prognose für Deutschland: 2009 2010 jährliche Wachstumsrate -4,5 % +1,5% Arbeitslosenzahl 3,5 Mio. 4,2 Mio. Defizitquote Staatshaushalt -3,5% -5,5% Prognose: Institut der deutschen Wirtschaft vom 21.09.2009 (Anfang des Jahres noch Einbruch von über 6% erwartet). Arbeitslosenquote steigt von 8 auf 9,5% in 2010. Defizit Staatshaushalt steigt von 87 Mrd. € auf 136 Mrd. € in 2010. OECD rechnet mit 5 Mio. Arbeitslosen (=11,8%) und länger anhaltender Stagnation, weil Abbau von Überkapazitäten, steigende Arbeitslosigkeit weltweit, Immobilienkrise nicht überwunden

Fazit: größter weltwirtschaftlicher Einbruch seit dem 2. Weltkrieg Talfahrt aber nicht so tief wie zuerst befürchtet offen: Wie stark und wie schnell kommt die wirtschaftliche Erholung, für die es erste Anzeichen gibt? Problem: Wirtschaftskrise wird auf dem Arbeitsmarkt und im Staatshaushalt erst mit Verzögerung in 2010 und 2011 voll wirksam.

Sozialkrise: „Der Finanzkrise folgt nicht nur eine Wirtschafts-, sondern auch eine Sozialkrise, die ihren Höhepunkt noch nicht erreicht hat.“ (IWF-Chef Strauss-Kahn, FR 14.09.2009) Der Entwicklung durch steigende Arbeitslosigkeit sinkende Steuereinnahmen Notwendigkeit Staatshaushalte wieder zu konsolidieren wird zu Anstrengungen führen, Sozialtransfers abzusenken, und das in allen Bereichen und auf allen Ebenen (Bund, Länder und Gemeinden).

„Die Krise schränkt die staatliche Handlungsfähigkeit ein… „Die Krise schränkt die staatliche Handlungsfähigkeit ein…. An den Schnittstellen zwischen den sozialen Sicherungssystemen werden die Konflikte zwischen den Kostenträgern zur Abgrenzung von Leistungsansprüchen und der Zuordnung wieder zunehmen.“ (Prof. Georg Cremer, Generalsekretär des Deutschen Caritasverbands, neue caritas 7.9.2009)

Finanzierung der Behindertenhilfe in NRW Eingliederungshilfe ist Teil der Sozialhilfe und liegt in der Zuständigkeit der Kommunen. In NRW durch Landesrecht geregelt, dass die beiden Landschaftsverbände Westfalen-Lippe und Rheinland als überörtliche Träger der Sozialhilfe für Leistungen der Eingliederungshilfe zuständig sind. Landschaftsverband Westfalen-Lippe (Leistungsempfänger): Stationäres Wohnen 25.300 Ambulant Betreutes Wohnen 8.900 Werkstätten für Menschen mit Behinderung 30.300 Tagesstätten 1.300 Heilpädagogische Kindergärten 2.800

Leistungen der Eingliederungshilfe 1.590 Mio. € Landschaftsverbände refinanzieren sich zum größten Teil über eine Umlage auf die Kerneinnahmen der Kommunen, die bei den Kreisen und kreisfreien Städten erhoben wird. Umlagesatz LWL in 2009: 15,2% LWL-Haushalt 2009: Leistungen der Eingliederungshilfe 1.590 Mio. € Aufkommen der kommunalen Umlage: 1.596 Mio € „Durch unvermeidbare Fallzahlsteigerungen ergeben sich höhere Ausgaben im Sozialhaushalt. Im Jahre 1984 gab der LWL 1,4 Mrd. DM aus. Heute sind es mit 1,5 Mrd. Euro doppelt so viel. So kann es nicht weitergehen.“ (Roland Trottenburg, Landschafts-versammlung am 26.2.2009) Kerneinnahmen (richtiger: allg. Deckungsmittel) der Kommunen sind der deren Steuereinnahmen (wesentlich: Grundsteuer, Gewerbesteuer, anteilige Einkommensteuer, anteilige Umsatzsteuer) + allg. Zuweisungen (insb. Schlüsselzuweisung des Landes) Grundlage: Gemeindefinanzierungsgesetz (bestimmt Umlagegrundlagen und sogenannte Steuerkraftmesszahlen).

Situation der Kommunen „Krise pulverisiert Gewerbesteuer“ (FD 18.7.2009): ca. 1/3 der kommunalen Einnahmen sinkt in einzelnen Städten um über 40% (in 2009 durchschnittlich -15%) weil mit Verzögerung zu zahlen, größter Einbruch in 2010 Einbußen bei Gewerbesteuer übertreffen fast überall die Mittel, die Kommunen aufgrund des Konjunkturpakets II zusätzlich zufließen

Deutlicher Anstieg bei den Sozialausgaben um voraussichtlich 5-10%. Der enorme Investitionsstau in vielen Kommunen (Schulen, Straßen, Sporthallen….) wird mit den Maßnahmen durch Konjunkturpaket II nur zum Teil behoben. Neue Aufgaben wie Ausbau von Offenen Ganztagsschulen oder Kindergartenplätze für Kinder unter 3 Jahren strapazieren die kommunalen Haushalte zusätzlich.

Einnahmen und Ausgaben ausgewählter Kommunen in Euro je Einwohner (2007) Gewerbesteuer Kerneinnahmen gesamt Soziale Leistungen * Münster 635 1.273 358 Essen 686 1.710 520 Bochum 368 1.379 379 Dortmund 408 1.536 654 * Soziale Leistungen ohne Eingliederungshilfe der Landschafts-verbände (LWL: 188,10 € je Einwohner in Westfalen-Lippe.) Quelle: www.wegweiser-kommunen.de (von der Bertelsmann-Stiftung eingerichtet, um kommunales Handeln und Wirtschaften vergleichbar zu machen) Anmerkung: Angaben zu LWL aus 2009 Merke: Unterschiede zwischen den Kommunen sehr groß Leistungen Eingliederungshilfe für Kommunen großer Haushaltsposten (von Kerneinnahmen 10-15% bzw. ca. 1/3 der Sozialausgaben)

4. Auswirkungen auf die Behindertenhilfe Auswirkungen der Finanzkrise: Höhere Anforderungen an Banken zur Eigenkapital-ausstattung + geringere Risikobereitschaft = verringertes Kreditvolumen der Banken. (Sorge um sogenannte Kreditklemme). Behindertenhilfe setzt Kredite in der Regel nur für Bauinvestitionen ein, wegen Zuschüssen meist nur geringer Kreditanteil. Fazit: Weil Behindertenhilfe Banken sichere Kreditgeschäfte bietet, kaum direkte Auswirkungen.

Auswirkungen der Wirtschaftskrise: Konjunkturabschwung führt zu unterschiedlich stark sinkender Auftragsvergabe der Wirtschaft an Werkstätten für Menschen mit Behinderung (zum Teil bis -30%). Werkstätten sind mit ihren Einnahmen aus dem Arbeitsbereich für einige Träger wirtschaftlich von großer Bedeutung.

Auswirkungen der Sozialkrise: Die Auseinandersetzungen um Sozialbudgets werden härter. Neue gesellschaftspolitische Prioritäten stärken Budgetanstrengungen für Bildung und schwächen Sozialanliegen. Innerhalb der Sozialwirtschaft wird neidvoll auf die besseren Standards der Behindertenhilfe z.B. im Vergleich zur Altenhilfe geschaut. Anliegen der Jugendhilfe haben zurzeit eine größere öffentliche Aufmerksamkeit als Anliegen der Behindertenhilfe.

b) Finanzieller Druck der Kommunen auf Landschafts- verbände geben diese an die Behindertenhilfe weiter, nämlich Kosten zu senken durch: Leistungsbegrenzungen (weniger „Fälle“) Absenkung der Leistungsstandards (weniger „Kosten pro Fall“) Einrichtungen der Behindertenhilfe werden mit Versuchen: der Verweigerung bzw. Verzögerung von Kostenzusagen und der Absenkung der Leistungsvergütungen konfrontiert.

Faktische Absenkung der Leistungsstandards schon allein durch sogenannte Nullrunden gegeben. (Wenn Kostenanstieg durch tarifliche Lohnerhöhungen und Sachkostensteigerungen nicht durch entsprechende Leistungsentgeltanpassungen kompensiert wird.)

Träger der Einrichtungen reagieren mit: Personaleinsparung (75 - 80% der Gesamtkosten), Absenkung der Fachkraftquote (so weit möglich), Vergrößerung von Betreuungseinheiten (z.B. mehr Plätze je Gruppe) Einschränkung der Bautätigkeit zur Erneuerung bzw. Verbesserung der Wohn- und Arbeitsbedingungen Projekte zur Weiterentwicklung werden ausgesetzt bzw. nicht neu aufgelegt (z.B. Einführung neuer Betreuungskonzepte, Vorhaben zur Dezentralisierung usw.) Einschränkungen bei besonders personalintensiven Betreuungsverhältnissen. Dienste und Einrichtungen mit strukturellem Defizit werden zurückgefahren (z.B. FuD´s, Beratungs-stellen usw.).

5. Handlungsmöglichkeiten Ersatz von beruflichen durch nicht-berufliche Hilfesysteme (-) Einschränkung des „Fallzahlwachstums“ (-) Entlastung der Kommunen z.B. durch die Einführung eines Bundesteilhabegeld für Menschen mit Behinderung (Forderung von DCV und CBP) (-) Personalpolitische Maßnahmen der Einrichtungen (+) In Verhandlungen mit Politik und Verwaltung Beibehaltung der erreichten Betreuungsstandards einfordern (+) Ablehnung von Leistungsanträgen mit rechtlichen Schritten begegnen (+)

langfristig: Wir müssen die Diskussion zu Leistungen und Kosten der Behindertenhilfe viel öffentlicher und offensiver als bislang führen. (++) Wir müssen noch mehr weg vom stationären Angebotsdenken und hin zu Hilfen in und für Familien mit behinderten Angehörigen. (++) Die Frage von gesellschafter.de „In welcher Gesellschaft wollen wir leben?“ muss auch in der Antwort münden: „Wir wollen einen gerechten und handlungsfähigen Sozialstaat.“ (++)