Seite 1 www.deutsch-ist-vielseitig.de Sprache, Sprachvariation und sprachliche Mythen Ein Zwischenfazit Aus- und Fortbildungsmodule zur Sprachvariation.

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 Präsentation transkript:

Seite 1 Sprache, Sprachvariation und sprachliche Mythen Ein Zwischenfazit Aus- und Fortbildungsmodule zur Sprachvariation im urbanen Raum

Seite 2 Was ist ein sprachlicher Mythos? Ansicht zu Sprache weit verbreitet gesellschaftlich etabliert aber sachlich nicht begründet: beruht nicht auf sprachlichen Fakten Sprachsystem, Sprachverwendung, Sprachentwicklung, Sprachvariation, Sprachrepertoire

Seite 3 Erster Mythos „Hochdeutsch ist gehobenes Deutsch.“ Erster Mythos:

Seite 4 Aus einem Gespräch bei Karstadt in Göttingen (Warteschlange vor der Kasse): - Junge (ca. 9 Jahre): „Das ist meiner Mutter sein Hut.“ - Kassiererin: „Das heißt „meiner Mutter ihr Hut“.“ [zustimmendes Gemurmel in der Warteschlange] Duden : „seit Langem im gesamten deutschen Sprachraum nachweisbar, gilt aber eigenartigerweise nicht als standardsprachlich.“ Erster Mythos

Seite 5 meiner MutterihrHut meiner MutterihreTasche meinem VaterseinHut meinem VaterseineTasche meinem VaterseinemHut GENUS KASUS Sprachliche Komplexität vs. Standard Erster Mythos

Seite 6 meiner Mutter meines Vaters GENUS Hut Tasche Hut der meines VatersTasche der die Duden: „seit Langem im gesamten deutschen Sprachraum nachweisbar, gilt aber eigenartigerweise nicht als standardsprachlich.“ Sprachliche Komplexität vs. Standard Erster Mythos

Seite 7 Hoch-Deutsch … ist nicht „gehobenes“ Deutsch, sondern fasst die hochdeutschen Dialekte zusammen, im Gegensatz zu den niederdeutschen/plattdeutschen Dialekten. → „hoch“ im geographischen Sinne (Berge), in Abgrenzung zur norddeutschen Tiefebene → hochdeutsch sind z.B. Bairisch, Schwäbisch, Sächsisch – und das Standarddeutsche Erster Mythos

Seite 8  Karrieren im Staats- oder Stadtdienst „Ein Gebildeter war schließlich, wer seine Schulung an Gymnasien und Universitäten durch Prüfungszeugnisse nachweisen konnte. Bildung in diesem Sinne setzte an die Stelle der Persönlichkeitsentfaltung den Wissensenzyklopädismus, vermittelte Leistungswissen und gewährte die in Diplomen verbriefte Berechtigung zum Eintritt in attraktive Berufe. Sie diente gleichzeitig als sozialer Abwehrmechanismus, um unerwünschten Zustrom von unten zu versperren.“ (H.-U. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgesch.) → „Bildungsbürgertum“:  17./18.Jh.: neue bürgerliche Mittelschicht  wenige Möglichkeiten zur Machtbeteiligung (Feudalsystem) Das heutige Standarddeutsch: ein hochdeutscher Dialekt der Mittelschicht Erster Mythos

Seite 9  Abgrenzung auch durch Sprache  Standessprache des Adels: Französisch „ein soziales Distanzierungsmittel zur Gewinnung von Prestige für eine herausgehobene Gruppe gesellschaftlicher Aufsteiger“ (P. von Polenz, Neuere deutsche Sprachgeschichte) → „Hochdeutsch“ als Standessprache der Mittelschicht: Das heutige Standarddeutsch: ein hochdeutscher Dialekt der Mittelschicht Erster Mythos

Seite 10 Basis: Sächsische Kanzleisprache am Meißner Hof Erster Mythos Das heutige Standarddeutsch: ein hochdeutscher Dialekt der Mittelschicht

Seite 11 Zweiter Mythos ZWEITer Mythos: „Das Deutsche verkommt. – Es wird bedroht durch umgangssprachliche Schlamperei und falsches Deutsch in Jugendsprache und Dialekten.“

Seite 12 Das Repertoire kompetenter Sprecher/innen Aus einem Telefongespräch: A.: „Samma, wollnwa nich ma wieder n Gartnfest mit den Kindern machen? Haste Lust nächstes Wochenende? Ich könnt Waffeln machn.“ B: „Weiß nich genau. Einklich sehr gerne, aber wir kriegn glaubich Besuch von Kais Schwester. Mussich noch fragn. Ich ruf dich noch ma an, OK?“  mündlich vs. schriftlich  informell vs. formell  Identifizierung in sozialen Gruppen  Auswahl je nach Situation Zweiter Mythos

Seite 13 Gutn Ahmd, meine Dam und Herrn Zweiter Mythos Das Repertoire kompetenter Sprecher/innen

Seite 14 Am Donnerstag, den habe ich einen Unfall miterlebt. Ich hab grad ein unfall gesehen Ich stand so da bei Ampel Ich stand an der Ampel zwischen der Großbeerenstraße und dem Tempelhofer Ufer. A. (Arabisch/Deutsch, 15 Jahre, männlich): SMS an eine Freundin schriftlicher Polizeibericht Gespräch mit einem Freund Gespräch mit der Polizei Z. (Urdu/Deutsch, 15 Jahre, weiblich): Das Repertoire kompetenter Sprecher/innen Zweiter Mythos

Seite 15 DRITter Mythos: „Früher war es besser. – Bei dem, was heute so gesprochen wird, würden sich Goethe/Schiller/Lessing im Grabe umdrehen.“ Dritter Mythos

Seite 16 Possessiver Dativ („meiner Mutter ihr Hut“): Schiller, Wallenstein „Auf der Fortuna ihrem Schiff Ist er zu segeln im Begriff“ Nicht-Standard-Konstruktionen in der Literatur Dritter Mythos

Seite 17 „Ach neige Du Schmerzenreiche“ „Wie Himmelskräfte auf und nieder steigen Und sich die goldnen Eimer reichen!“ Dialektlautung: Goethe, Faust Nicht-Standard-Konstruktionen in der Literatur Dritter Mythos

Seite 18 Umgangsprachliches so: „Mathe und Physik, das ist so überhaupt nicht so mein Ding so. Ich steh so eher auf Kunst und so Grafikdesign so.“ Bastian Sick, Zwiebelfisch Illustration dafür, dass so in dieser Verwendung angeblich ein „überflüssiges Füllwort“ mit „null Information“ sei Funktionswort zur Anzeige der neuen, zentralen Information: sprachlicher „Fokus“ Nicht-Standard-Konstruktionen Dritter Mythos

Seite 19 „Derwisch: Lässt sich Aus einem Derwisch denn nichts, gar nichts machen? Nathan: Ei wohl, genug! – Ich dachte mir nur immer, Der Derwisch – so der rechte Derwisch woll' Aus sich nichts machen lassen.“ so als Fokus-Anzeiger: Lessing, Nathan der Weise Nicht-Standard-Konstruktionen in der Literatur Dritter Mythos

Seite 20 „Der hat gesagt: er hätt mal so Jungens so hauen müssen. Sicher hätt ich da so Angst gekriegt. Und dann ist er immer so nett zu mir gewesen.“ so als Fokus-Anzeiger: Julie Kruse, Julchen - Ein Buch vom kleinen Leben. Berlin: Charonverlag 1910 Dritter Mythos Nicht-Standard-Konstruktionen in der Literatur

Seite 21 „Nein, nein, die regen sich nicht auf, sondern sie sagen: Oh, da ist eine Verschwörung im Gang und der wird mich ablösen und der wird meinen Posten einnehmen. Es sind so Scheinkämpfe in einer Scheinwelt.“ „Das mag originell sein und das mag irgendwie so einen Kieztouch haben, wenn man Kreuzberg liebt, dann liest man das nicht völlig ohne Amüsement.“ so als Fokus-Anzeiger: Literarisches Quartett 2001; Hellmuth Karasek; Iris Radisch Nicht-Standard-Konstruktionen in der Literatur Dritter Mythos

Seite 22 „Wer so spricht, mit dem ist es nicht weit her.“ VIERTER Mythos: Vierter Mythos

Seite 23 Grammatische Fakten vs. soziale Bewertung  Verbundenheit mit dem Standard → Bewertung von Abweichungen vom Standard als „Fehler“ → negative Bewertung von Nichtstandard-Sprecher/inne/n  negative Einstufung des Sprachgebrauchs (vermeintlich) sozial Schwächerer Einstellungen gegenüber Sprache: Vierter Mythos

Seite 24 „Dass sie ein ganz einfaches Mädchen ist, das keine Eliteschule besucht hat, bricht auch heute noch ab und zu durch. Da sprudelt das Gassendeutsch fehlerlos […]. Da hat sie etwas getan „wie bekloppt“ oder ist rumgerannt „wie ‘n Vollidiot“; „nüscht“, eins ihrer Lieblingswörter, „nüscht“ hat sich da verändert.“ Gertrud Höhler über Angela Merkel: (aus: Die Patin: Wie Angela Merkel Deutschland umbaut. Zürich: Orell Füssli S.193f) Gertrud Höhler ist Professorin für Literaturwissenschaft, stammt aus einer evangelischen Pfarrersfamilie in Westfalen. Vierter Mythos Grammatische Fakten vs. soziale Bewertung

Seite 25 Auch die Wahrnehmung von (eigenem und fremdem) Sprachgebrauch ist durch soziale Einstellungen und Erwartungen geprägt: „Ich benutze nie „weil“ mit Hauptsatzstellung, weil das klingt furchtbar!“ Studentin in einem Grammatikseminar: Vierter Mythos Grammatische Fakten vs. soziale Bewertung

Seite 26 „Ich bin Berliner, habe Berlin aber mit 16 Jahren verlassen. Einen berlinischen Akzent nehme ich mir bewusst nur an, wenn ich mit Berliner Freunden oder Verwandten spreche. Ich bin aber wohl immer noch als Berliner zu erkennen. Als Werkstudent hatte ich für die Firma Braun eine sog. Stehbildreihe zu besprechen. Das war ein Werbetext zu einer Diaschau, damals für die Vampirette. Meine Sprache wurde in Frankfurt als berlinerisch beanstandet. Ich war erstaunt, aber auch ratlos. Mein Betreuer tröstete mich. Wir legten dem Chef dasselbe Band einfach nach drei Tagen noch mal vor. Sein Kommentar. „Na also. Geht doch.“ Ein Berliner erzählt: Auch die Wahrnehmung von (eigenem und fremdem) Sprachgebrauch ist durch soziale Einstellungen und Erwartungen geprägt: Facharzt für innere Medizin, Jahrgang 1932 Vierter Mythos Grammatische Fakten vs. soziale Bewertung

Seite 27 „Zweisprachigkeit als Ergebnis eines doppelspracherwerbs heißt, dass das Kind von Geburt an zwei Sprachen gelernt hat, weil z. B. die Mutter Französin, der Vater Deutscher ist. Hier kann nach dem Motto "Eine Person - Eine Sprache" mit dem Kind gesprochen werden. Bei Eltern aus einem Sprachbereich (Mutter und Vater sprechen z. B. Türkisch) funktioniert das natürliche Erlernen der zweisprachigkeit nicht. Gerade Familien aus dem Bereich der MigrantInnen, Aussiedler und Flüchtlinge kommen meistens aus einem Land. Hier wird dann oft ausschließlich die Muttersprache gesprochen. Viele Kinder in Kindertageseinrichtungen sind von der doppelten Halbsprachigkeit betroffen. Doppelte Halbsprachigkeit, auch Semilingualismus oder subtrakte Zweisprachigkeit genannt, bedeutet, dass weder Muttersprache noch die Zweitsprache richtig gesprochen werden.“ Dies gilt auch für die Einschätzung von Mehrsprachigkeit: Hier spielt der Marktwert von Sprachen eine wichtige Rolle! GEW Schleswig-Holstein, Vertrauensleutebrief Nr. 2–2002 Vierter Mythos Grammatische Fakten vs. soziale Bewertung

Seite 28 Deutsch ist vielseitig und besteht, wie alle Sprachen, aus einer bunten Vielfalt komplexer Dialekte, Stile, Jugendsprachen, … Das Standarddeutsche ist Teil dieser Vielfalt. Deutsch ist lebendig und verändert sich, wie alle lebenden Sprachen ständig, probiert neue Varianten aus, verwirft andere, entwickelt neue Formen der Komplexität und Ökonomie. Wir alle sprechen viele Varianten des Deutschen und setzen sie je nach Situation, Gesprächspartner etc. unterschiedlich ein. Wir sprechen nicht nur ein Deutsch, und wir schreiben nicht, wie wir sprechen. Mehrsprachigkeit ist ein natürlicher weiterer Teil dieser Kompetenzen. Die Wahrnehmung von Sprache und Sprecher/inne/n ist sozial geprägt und stützt sich mehr auf soziale Be- und auch Abwertungen und auf den sozialen Marktwert von Sprachen, Stilen und Dialekten als auf sprachliche Fakten.