09.01.2006Einführung in die Ethnologie Heidemann – LMU – WS 2005/06 1 Hinweis: Die Vorlesung findet am 23.01.06 im Museum für Völkerkunde, Maximilianstr.

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 Präsentation transkript:

Einführung in die Ethnologie Heidemann – LMU – WS 2005/06 1 Hinweis: Die Vorlesung findet am im Museum für Völkerkunde, Maximilianstr. 42, im großen Vortragssaal statt.

Einführung in die Ethnologie Heidemann – LMU – WS 2005/06 2 Verwandtschaftsethnologie Verwandtschaft bildet die Grundstruktur in Gesellschaften ohne Staat, und in Nationalstaaten beeinflusst die Idee von Verwandtschaft gleichermaßen zahlreiche Bereiche. Die Verwandtschaftsethnologie beschäftigt sich mit der Organisation der Familie (Heiratsregeln, Erbschaftsfolge, Wahl des Wohnorts, Landrecht, Namensgebung, Anredeformen etc.) sowie mit dem Zusammenwirken größerer sozialer Einheiten (Lineage, Klan, Altersklassen, Kaste etc.). Ethnologische Feldforschung schließt immer den Aspekt von Verwandtschaft mit ein.

Einführung in die Ethnologie Heidemann – LMU – WS 2005/06 3 Drei Konzepte Im Bereich der Verwandtschaft können drei Konzepte unterscheiden werden: Abstammung oder Deszendenz [vertikale Dimension] Blutverwandtschaft (agnatische Beziehungen) [horizontale Dimension] Affinität (eheliche Bindung, Beziehung zu den Brautgebern) [laterale Beziehungen] Diese Konzepte bilden die Grundlage für einen wertneutralen Vergleich.

Einführung in die Ethnologie Heidemann – LMU – WS 2005/06 4 Drei Ebenen von Verwandtschaft In vielen Gesellschaften durchdringt Verwandtschaft nahezu jeden Bereich des täglichen Lebens. Needham hat eine sinnvolle Unterscheidung von drei analytischen Ebenen vorgeschlagen: Die Ebene des Handelns, also Empirie, Pragmatik (wer heiratet wen?), die somit statistisch erfassbar ist. Die Ebene der normativen Erwartungen, der Haltungen, der Institutionen, der Terminologie, der Erb- und Heiratsregeln (wer sollte wen heiraten?). Die Ebene der Vorstellungen, der Wertideen, der Ideologie (Egalität oder Hierarchie), Grundannahmen (Gender etc.).

Einführung in die Ethnologie Heidemann – LMU – WS 2005/06 5 Der Vorteil der Vergleichbarkeit Im Gegensatz zu anderen universalen Aspekten (wie „Macht“ oder „Ritual“) lässt sich eine Ebene von Verwandtschaft, die der Regeln und der Terminologie, leicht formalisieren. Fragen zur Terminologie könnten beispielsweise lauten: „Wie bezeichnen Sie Vaters Bruder, und wie bezeichnen Sie Mutters Bruder, wenn Sie von der Person zu einem Dritten sprechen?“ Oder: „Wie bezeichnen Sie Vaters älteren Bruder, und wie Vaters jüngeren Bruder?“ Die Antworten verweisen auf Abstammungsregeln und Vorstellungen über Hierarchie.

Einführung in die Ethnologie Heidemann – LMU – WS 2005/06 6 Verwandtschaftsmodelle, Zeichen und Abkürzungen Kreis - weibliche Person Dreieck - männliche Person Eine horizontale Linie verbindet Geschwister. Zwei horizontale Linien verbinden Ehepartner. Vertikale Linien verbinden Generationen. Abkürzungen: M = Mutter; F = Vater; B = Bruder; Z = Schwester; D = Tochter, S = Sohn; e = älter, y = jünger Folglich werden als „Onkel“ bezeichnet: FB oder MB, als „Tante“ MZ oder FZ und als Cousin bspw. FBS oder MZS

Einführung in die Ethnologie Heidemann – LMU – WS 2005/06 7 Lewis Henry Morgan (1870) – Terminologie der Verwandtschaft Den Grundstein für eine vergleichende Verwandtschafts- forschung legte L. H. Morgen (1870) als er erkannte, dass weit entfernt lebende Indianergruppen Parallelcousinen (Kinder von FB und MZ) mit dem gleichen Begriff wie Brüder und Schwestern bezeichneten und von Kreuzcousinen unterschieden (Kinder von FZ und MB). Die gleiche Form der Klassifizierung wies er später mit weltweit verschickten Fragebögen in zahlreichen Gesellschaften nach und erkannte in der Verwandtschaftsterminologie ein stabiles und strukturiertes Kulturelement.

Einführung in die Ethnologie Heidemann – LMU – WS 2005/06 8 W.H.R. Rivers (1906) – Die genealogische Methode Rivers zeichnete als erster Feldforscher Genealogien am Beispiel der Toda auf, um Deszendenz und Allianzen zu dokumentieren. Die Toda lebten bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts in einer südindischen Rückzugsregion, haben eine eigene Sprache, eine eigene Religion und ein einzigartiges Verwandtschaftssystem, das in seiner Terminologie jedoch dem verbreiteten dravidischen (bereits von Morgan in Nordamerika entdeckten) System entspricht. Im Anhang der Monografie wurde nahezu jede der etwa eintausend Personen umfassenden Gruppe in einem genealogischen System dokumentiert.

Einführung in die Ethnologie Heidemann – LMU – WS 2005/06 9 Toda in Südindien Die Gesellschaft der Toda besteht aus zwei endogamen „Hälften“ (Moieties), die jeweils in exogame Klane gegliedert sind. Ihr polyandrisches Heiratssystem machte eine Frau stets zur Gattin von mehreren Brüdern. Neben der Ehe sind weitere sexuelle Beziehungen außerhalb der Moiety gestattet und institutionalisiert. Die legale Vaterschaft übernimmt der Ehemann (oder einer seiner Brüder) im siebten Monat der Schwangerschaft. Toda unterscheiden somit zwischen einer rechtlichen und einer biologischen Vaterschaft. Abgesehen von einigen „Sonderfällen“ dieser viehzüchtenden Vegetarier fügt sich ihre kulturelle Konstruktion in den südindischen Kontext.

Einführung in die Ethnologie Heidemann – LMU – WS 2005/06 10 Claude Lévi-Strauss (1949) – Kusinenheirat als Allianz Lévi-Strauss (1949) sah im Inzestverbot das Gebot zur Exogamie und somit zum „Frauentausch“, der in systematischer Form die Grundlage von regelmäßigen Beziehungen zwischen Gruppen wurde. Eheschließungen bilden Allianzsysteme, die Brautgeber und Brautnehmer miteinander verbinden. Perfekte Allianzsysteme bilden die beiden Formen der Kreuzcousinenheirat, deren matrilaterale Variante ein direktes Tauschsystem (potentiell stabil), und deren patrilaterale Variante einen verzögerten Tausch (potentiell dynamisch) bewirken (siehe Fotokopie aus M. Oppitz).

Einführung in die Ethnologie Heidemann – LMU – WS 2005/06 11 Forschungstendenzen Im Gegensatz zum Funktionalismus und Strukturalismus findet die Verwandtschaftsethnologie im Postmodernismus ungeachtet der großen Bedeutung wenig Beachtung. Die Möglichkeit der Formalisierung von Verwandtschaft, die einst als große Chance begriffen wurde, gilt heute als reduktionistisch. Interpretierende Arbeiten lehnen Verwandtschaft als Forschungsgegenstand oft ab, weil er ein separates Teilgebiet suggeriere, das in der ethnografischen Realität nicht existiert. Dennoch wird in weiten Teilen der Welt heute „verwandtschaftlich“ gedacht und im Rahmen von konkreten Verwandtschaftssystemen gehandelt.