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Einführung in die Europäische Ethnologie

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Einführung in die Europäische Ethnologie

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Präsentation zum Thema: "Einführung in die Europäische Ethnologie"—  Präsentation transkript:

1 Einführung in die Europäische Ethnologie
WS 2008/09 Prof. Dr. Johannes Moser Bitte beachten Sie, dass in diese Einführungsvorlesung Literatur von verschiedenen Kolleginnen und Kollegen eingearbeitet wurde, die nicht mehr einzeln nachgewiesen werden kann. In der Literaturliste sind alle entsprechenden Titel genannt. Die Inhalte auf diesen Folien entstammen daher nur teilweise eigenen , Forschungsleistungen, weshalb diese Folien nicht zitierfähig sind. Sie sind nur für die begleitende Verwendung zum Vorlesungsbesuch vorgesehen.

2 Einführung in die Europäische Ethnologie 2
Volkskunde/Europäische Ethnologie ist eine Disziplin, die sich im weitesten Sinn mit der Alltagskultur bzw. mit kulturellen Phänomenen in Europäischen Gesellschaften in Geschichte und Gegenwart beschäftigt. In ihrer Tradition als Volkskunde lange Zeit mehr auf die eigene nationale Gesellschaft fokussiert, hat sich der Blickwinkel in den letzten Jahrzehnten verstärkt auf kulturelle Phänomene in ganz Europa erweitert. Im Gegensatz zu manchen anderen Kulturwissenschaften richtet die Volkskunde/Europäische Ethnologie ihr Augenmerk weniger auf die Hochkultur oder Lebenswelten der höheren Schichten, sondern auf das Denken, Handeln und Fühlen von Gruppen aus der breiten Bevölkerung. Vor allem die symbolischen Ordnungen des Alltagslebens in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem Wandel stehen im Zentrum des Interesses, wobei die Beziehungen von Kultur, Macht und Ungleichheit eine zentrale Rolle spielen.

3 Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur
Kultur ist ein zentraler oder wahrscheinlich der zentrale Begriff des Faches. Für die Begriffsgeschichte von Kultur kann zunächst auf das lateini-sche Wort cultura verwiesen werden, mit dem die menschliche An-eignung der Natur beschrieben wird: die Kultivierung des Bodens, die Pflege der Landwirtschaft und in weiterer Folge überhaupt Frau-gen der Pflege, der Veredelung und der Ausbildung von Menschen. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wird Kultur dann der Natur gegenüber gestellt. Kultur ist dabei das von Menschen Erschaffene, Natur das Ursprüngliche. Natur umfasst die menschliche Leiblichkeit, Kultur die humane Geistigkeit. Herder spricht etwa von einer „Kultur des Volkes“ und versteht darunter noch Ursprüngliches und Unverbildetes. Goethe wiederum schreibt von „Bildungskultur“ und meint menschliche Herzens- und intellektuelle Geistesbildung.

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Diese unterschiedlichen Semantiken, so Wolfgang Kaschuba, fließen auch in die Volkskunde des 19. Jahrhunderts ein, bleiben vielfach ungeordnet nebeneinander bestehen und werden kaum begriffs- und ideologiegeschichtlich hinterfragt. Herders „Kultur des Volkes“ sucht nach ästhetischen Zeugnissen, nach einer natürlichen Poetik, die in Märchen und Liedtexten ver-mutet wird. Eine „Kulturkunde“ der frühen Landes- und Reisebe-schreibungen wiederum sammelt ländliche Bräuche, populäre Sitten, Kenntnisse über den Stand der Landespflege. Bereits hier wird klar, dass die Vorstellung einer Bildungskultur neben einer Kultur von Land und Leuten – vor allem verbunden mit dem Namen Wilhelm Heinrich Riehl – existierte. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts kommt dazu auch noch die politische Karriere von Kultur, die als „Deutsche Kultur“ zum Synonym für einen Nationalismus wurde, dem zunächst noch sie staatlich-politische Gestalt fehlte.

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Neben der Vorstellung von materieller und geistiger Kultur wirkte auch jene von niederer und hoher Kultur lange weiter. Riehl unterschied Bildungsgut vom primitiven Gemeinschaftsgut, Friedrich Naumann sprach von gesunkenem Kulturgut und sah die schöpferische Kompetenz bei den oberen Schichten. Erst die Reformdebatten seit den 1960er Jahren führten zu einem reflektierten Kulturbegriff, was auch Auswirkungen auf Fragestellungen und Betrachtungsweisen hatte. Die Volkskunde hatte sich seit ihrer Etablierung für Veränderungsprozesse interessiert, zunächst aber noch mit einem sentimentalen und bewahrenden Blick, dann interessierte sie sich dafür, wie die Veränderungen von Menschen wahrgenommen werden, welche Bedeutungen die Menschen diesen Veränderungen beimessen und welche Handlungsoptionen sich daraus ergeben. Die Diskussion um den Kulturbegriff wie das Fach insgesamt wurde durch verschiedene theoretische Konzepte beeinflusst.

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Eines dieser Konzepte ist das der Zivilisation von Norbert Elias. Norbert Elias ( ), als Sohn jüdischer Eltern in Breslau ge-boren, 1915 Abitur, bis 1917 Kriegsdienst. Er studierte in Breslau, Heidelberg (u.a. bei Karl Jaspers), Freiburg im Breisgau (u.a. bei Ed-mund Husserl). Er promoviert 1922 mit der Arbeit „Idee und Indivi-duum. Eine kritische Untersuchung zum Begriff der Geschichte“. 1924 ging er wieder nach Heidelberg, arbeitete für Karl Mannheim und saß im Oberseminar bei Alfred Weber. Er folgte dann Karl Mannheim nach Frankfurt am Main, wo er 1932/ 33 seine Habilitationsschrift „Der höfische Mensch“ einreichte. Für die Lehrbefugnis fehlte nur noch die Antrittsvorlesung, als die Nationalsozialisten an die Macht kamen. Elias floh nach Frankreich und 1935 weiter nach England. Dort schrieb er – im Lesesaal des British Museum – sein zweibändiges Werk „Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psy-chogenetische Untersuchungen“ (1936; publiziert 1939).

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Elias schlug sich mit Unterricht an Volkshochschulen durch. Erst 1954 erhielt er eine Dozentenstelle am Department of Soziology der Universität Leicester, wo er bis 1962 unterrichtete. Bei ihm studierten etwa Anthony Giddens und Martin Albrow. Von 1962 bis 1964 hatte er eine Professur an der University of Ghana in Accra inne. 1965 kam er als Gastprofessor an der Universität Münster erstmals seit seiner Flucht nach deutschland zurück. Seit 1975 hatte er seinen Hauptwohnsitz in den Niederlanden und erst in den 1970er Jahren wurde aus seinem „Prozeß der Zivilisation“ ein wissenschaftlicher Bestseller. 1977 erhält Elias den ersten Adorno-Preis und von 1978 bis 1984 arbeitet er am Zentrum für interdisziplinäre Forschung in Bielefeld und an der Ruhr-Universität Bochum. Bis zu seinem Tod im Jahr 1990 in Amsterdam arbeitete er unermüdlich an seinem Werk weiter.

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Sein Hauptwerk ist der „Prozeß der Zivilisation“, das nachhalti-gen Einfluß auf die Sozial- und Geisteswissenschaften aus-übte. Im Grunde geht es dabei darum, die Veränderungen menschli-chen Verhaltens, der Empfindungen und Affekte als einen Zivilisationsprozess zu verstehen. Zivilisation ist für Elias dabei die langfristige Umwandlung von Außenzwängen in Innenzwänge. Elias beschreibt "Zivilisierung" als einen langfristigen Wandel der Persönlichkeitsstrukturen, den er auf einen Wandel der Sozialstrukturen zurückführt. Faktoren des sozialen Wandels sind der kontinuierliche techni-sche Fortschritt und die Differenzierung der Gesellschaften ei-nerseits sowie der ständige Konkurrenz- und Ausscheidungs-kampf zwischen Menschen und Menschengruppen anderer-seits.

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Diese führen zu einer Zentralisierung der Gesellschaften (Einrichtung staatlicher Gewalt- und Steuermonopole) sowie zur Geldwirtschaft. Das Bindeglied zwischen diesen sozialstrukturellen Verän-derungen und den Veränderungen der Persönlichkeitsstruktur ist die Tatsache, dass die gegenseitigen Abhängigkeiten wachsen, durch die "Inter-aktionsketten", in die Menschen eingebunden sind. Dies erzwingt eine zunehmende Affektkontrolle, d.h. zwischen spontanem emotionalem Impuls und tatsächlicher Handlung tritt immer mehr ein Zurückhalten dieses Impulses und ein Überdenken der (Rück)Wirkungen des eigenen Handelns.

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Das hat verschiedene Folgen: • das Sinken der Gewaltbereitschaft; • das Vorrücken der "Schamschwellen"; • das Vorrücken der "Peinlichkeitsschwellen"; • eine "Psychologisierung", d.h. die Steigerung der Fähigkeit, die Vorgänge innerhalb anderer Menschen zu verstehen; • eine "Rationalisierung", d.h. eine Steigerung der "Langsicht", also der Fähigkeit, die Folgen der eigenen Handlungen über immer mehr Glieder der Kausalketten vorauszu"berechnen". • Elias zeigt "wie etwa von den verschiedenen Seiten her Fremdzwän-ge sich in Selbstzwänge verwandeln, wie in immer differenzierterer Form menschliche Verrichtungen hinter die Kulisse des gesellschaft-lichen Lebens verdrängt und mit Schamgefühlen belegt werden, wie die Regelung des gesamten Trieb- und Affektlebens durch eine be-ständige Selbstkontrolle immer allseitiger, gleichmäßiger und stabiler wird."

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Für Elias bestimmt eine fundamentale dynamische Verflechtungsord-nung ("Figuration") den Gang des geschichtlichen Wandels; "sie ist es, die dem Prozess der Zivilisation zugrunde liegt." Diese Verflechtungsordnung ist recht einfach: "Pläne und Handlun-gen, emotionale und rationale Regungen der einzelnen Menschen greifen beständig freundlich oder feindlich ineinander." • Aber er weist auch darauf hin, "dass sich aus allem Planen und Handeln der Menschen vieles ergibt, was kein Mensch bei seinem Handeln eigentlich beabsichtigt hat“. • In der Entwicklung der abendländischen Gesellschaft "differenzieren sich die gesellschaftlichen Funktionen unter einem starken Konkur-renzdruck mehr und mehr." Die Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Funktionen bestimmt die Richtung der "Veränderung des Verhaltens im Sinne einer immer differenzierteren Regelung der gesamten, psychischen Apparatur."

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Diese differenziertere und stabilere Regelung wird dem einzelnen Menschen von klein auf mehr und mehr, als ein Automatismus ange-züchtet, "als Selbstzwang, dessen er sich nicht erwehren kann, selbst wenn er es in seinem Bewußtsein will." "Die fortschreitende Differenzierung der gesellschaftlichen Funktio-nen ist nur die erste, die allgemeinste der gesellschaftlichen Trans-formationen. ... Mit ihr, ... geht eine totale Umorganisierung des gesellschaftlichen Gewebes Hand in Hand." • "Die eigentümliche Stabilität der psychischen Selbstzwang-Appara-tur, ..., steht mit der Ausbildung von Monopolinstitution der körperli-chen Gewalt und mit der wachsenden Stabilität der gesellschaftli-chen Zentralorgane in engstem Zusammenhang.“ • In früheren Gesellschaften lebt der Einzelne ungeschützter. Auf der einen Seite war er freier, sich der Lust hinzugeben, auf der anderen Seite war er gefährdeter durch Feinde oder Naturphänomene. Es war ein Leben zwischen Extremen.

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Elias behauptet nicht, dass es früher keine Formen von Selbstzwän-gen gegeben hätte, aber es "ist ein anderer Typus von Selbstbeherr-schung oder Selbstzwang." Der neue Typus ist nicht mehr so ausge-lassen, nicht mehr so extrem in den Schwankungen - zwischen Lust und Unlust, Freude und Leid -, sondern bewegt sich auf einer mitt-leren Linie. • Elias beschrieb also eine Entwicklung hin zur Individualisierung, die die Ausbildung individueller Fähigkeiten ebenso befördert wie die Anpassung von Verhaltensstandards. • Die Geschichte der Zivilisierung sieht er als einen „sozio- und psy-chogenetischen Vorgang“, als einen Prozess der gesellschaftlichen Verhaltenskonditionierung, der sich in moralischen Strategien der Bedürfnis- und Triebkontrolle niederschlägt. • Der „Prozeß der Zivilisation rief natürliche auch viele Kritiker auf den Plan. Vor allem der Ethnologe Hans Peter Duerr versuchte, den Zivilisationsprozess als Mythos zu entlarven.

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Dieser Mythos, so Duerr, besage, dass die derzeitige Domestikation unserer tierischen Natur das Ergebnis eines langwierigen Prozesses sei, der im westlichen Europa gegen Ende des Mittelalters und bei den „primitiven Völkern“ erst in jüngster Zeit begonnen habe. Vor allem wehrt sich Duerr nicht zu Unrecht gegen ein Zerrbild frem-der Kulturen, denn Elias hat offenbar überhaupt keine rezenten ethnologischen Bücher gelesen und kommt daher zu einer ziemli-chen Fehleinschätzung dieser von ihm so genannten „Primitiven“. • In akribischer Quellenarbeit widerlegt Duerr Elias, er bringt für die unterschiedlichen Epochen – sowohl in Europa als auch in der „Dritten Welt“ – Belege, die den Thesen Elias’ weitgehend widersprechen. • Während Elias unter der Rubrik „natürliche Bedürfnisse“ nachzuzei-chnen versucht, wie sich gewisse Scham- und Peinlichkeitsgrenzen erst nach und nach herausbilden, kann Duerr zeigen, dass Urinieren, Defäkieren und Furzen in praktisch allen Kulturen dieser Welt mit Ekel- und Schamgefühlen sowie Peinlichkeitsschwellen besetzt ist.

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Andere Kritiker meinen, sein Geschichtsmodell sei zu nahe an längst überholten Evolutionstheorien. Zudem wird der Verdacht geäußert, Elias habe seine Belege zu sehr an die bereits bestehende Theorie angepasst.. • Ein anderer Kritikpunkt bezieht sich darauf, wie Elias seine an der Oberschicht gefundenen Befunde auf andere Schichten und Milieus sowie auf andere Völker und Kulturen überträgt. • Durch seine übervereinfachende Modellkonstruktion, so ein letzter hier zu erwähnender Kritikpunkt, geraten aber auch einzelne Befun-de von Elias in ein schiefes Licht, weil damit Entwicklungen nicht gedeutet werden können, die seiner Konstruktion zuwiderlaufen – z.B. im Bereich der wieder liberaler gewordenen Vorstellungen und Praktiken in Bezug auf Nacktheit oder Sexualität. • Die Zivilisationstheorie sollte aber dennoch nicht zu gering geschätzt werden, weil sie gewisse Perspektiven eröffnet.

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Ein Erbe von Elias Theorie liegt in einer nachdrücklichen Orientierung an gesellschaftlichen Prozessen – Prozesse, die niemals zu Ende sind und laufend beobachtet aber ebenso gestaltet werden können. Ein anderer zentraler Punkt ist sicherlich die Beobachtung, dass eine Verlagerung der Kontrolle durch andere von einer Selbstkontrolle – der so genannten Selbstzwangapparatur – abgelöst wird. Damit ist auch jene Entwicklung zur Individualisierung angedeutet, die spätes-tens seit Ulrich Becks „Risikogesellschaft“ auf der Agenda der Sozialwissenschaften steht. • Schließlich war Norbert Elias ein großer Intellektueller, der mit sei-nem Spätwerk noch zu überzeugen wusste und neben der Zivilisa-tionstheorie eben noch andere wichtige Bücher verfasste: seine wis-senssoziologischen Studien „Engagement und Distanzierung“ und „Über die Zeit“; „Die Gesellschaft der Individuen“; Studien über die Deutschen“ und zusammen mit John Scotson das Buch „Etablierte und Außenseiter“, um nur einige zu nennen.

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In den 1970er Jahren beeinflussen aber auch andere Debatten die Kulturwissenschaften – so insbesondere die unter dem Namen „Cultural Studies“ bekannt gewordene Richtung. Der Ursprung dieser Debatte ist vor allem mit drei Namen verbunden, die auch als die Gründungsväter der Cultural Studies gelten: Richard Hoggart, Raymond Williams, und Edward P. Thompson. • Raymond Williams (1921 – 1988): „Culture and Society“ (1958) Edward Palmer Thompson ( ) Richard Hoggart (* 1918): „The Uses of Literacy“ (1957), Begründer des Centre of Contemporary Cultural Studies (CCCS) in Birmingham Alle drei Wissenschsftler verabschieden sich von einem Verständnis von Kultur, das sich ausschließlich auf ästhetische und intellektuelle Werke und Prozesse bezieht. Hoggart und Williams waren so genannte scholarship boys (Schulstipendiaten), die aus dem Arbeitermilieu stammten

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Der scholarship boy war so etwas wie die soziale Figur des marginal man nach Robert E. Park. Dabei handelt es sich um eine Person, die sich im Grenzbereich zweier Kulturen befindet, an beiden teilhat, aber keiner wirklich angehört. Williams meint in einem programmatischen Essay aus dem Jahr 1958 „Culture is ordinary“, Kultur also etwas alltägliches. Damit werden die gelebten Erfahrungen und das Alltagshandeln als sozial bedeutsame und kulturell bedeutungsvolle Praxen themati-siert. Williams prägte die vielzitierte Definition von Kultur als "umfassende Lebensweise", "als Weg, alle unsere gemeinsamen Erfahrungen darzustellen". Für Hoggart wiederum spielte die Bildung die entscheidende Rolle für den Aufbau einer gerechteren und demokratischen Gesellschaft. Sein Buch „The Uses of Literacy“ ist ein Textbuch zur Populär- und Massenkultur, dem er allerdings einen ethnographischen Teil voran-stellt, der die Rezipienten dieser Massenpublikationen beschrieb.

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Hoggart beschreibt den Schauplatz und die Protagonisten, deren Denk- und Sprachmuster, Alltagsleben und Freizeitvergnügen. Dieser Teil kann als eine authentische Beschreibung der Arbeiterkul-tur der Zwischenkriegszeit gelten – von den kühnen Tapetenmustern bis zum Einkauf im Woolworth, von den Gerüchen bis zur „debun-king art“, der volkstümlichen Kunst des Verarschens. Ihn zeichnete, wie Rolf Lindner meinte, „eine Aufmerksamkeit für die scheinbar nebensächlichsten und minderwertigsten Untersuchungs-gegenstände“ aus. Bei Hoggart verfügen die Dinge über eine emotionale Sprache, allem Dekorativen kommt großer Glanz zu. Die Nippes sind Zeichen für die guten Zeiten, zeugen von Rummelplatzbesuchen, von Ausflügen etc. Für Hoggart sind es die Prinzipien der Selbstachtung, der Gesel-ligkeit, auch der Kumpanei, des „leben und leben lassen“, die den Bezug zur Massenkultur und zu den „wirklichen Dingen“ regulieren. Keine Rede ist bei ihm vom so genannten Notwendigkeitsge-schmack der „populären Klasse“, sondern diese ist ganz im Gegenteil trotz aller ökonomischen Zwänge in der Lage, „ihren Mitgliedern Selbstachtung und Würde zu verleihen“.

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Bei Hoggart ist das angelegt, was Stuart Hall insgesamt zum Kultur-verständnis der Cultural Studies meinte: „Das heißt, dass die Kultur eher im Hinblick auf ihre Beziehung zwischen einer sozialen Gruppe und den Dingen, die deren Lebensweise ausdrücken, betrachtet wer-den muß als im Hinblick auf die Dinge selbst – also nicht das Bild, der Roman, das Gedicht, die Oper, sondern die Beziehung zu der sozialen Gruppe, deren Leben sich in diesen Objekten widerspiegelt. Dann kommt die Kultur den historischen und sozialen Verhältnissen sehr viel näher, und ich glaube, dass an diesem Punkt die ‚anthropo-logische Definition der Kultur’, wie sie gelegentlich in England be-zeichnet wird, einsetzen kann. Dahinter steht das Theorem der kulturellen Homologie, was bedeu-tet, dass Artefakte, Kunstwerke und Konsumobjekte den Vorstel-lungs- und Handlungsmustern von Personen und Gruppen entspre-chen müssen. Damit sind aber auch allzu einfache Vorstellungen von der Manipula-tion der Konsumenten und Rezipienten in Frage gestellt. Konsum wird hier – und diese Auffassung ist einflussreich bis heute – als ein Akt der Aneignung verstanden, durch den ein Objekt adaptiert und modifiziert werden kann.

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Auch der Beitrag von Edward P. Thompson wird unter dem engeren Kreis der Cultural Studies-Vertreter häufig unterschätzt. Thompson war wahrscheinlich am besten für seine historischen Arbeiten über die britischen radikalen Bewegungen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts bekannt, insbesondere für sein Buch The Making of the English Working Class (1963, dt. 1987), das Historiker der Arbeiterbewegung auf der ganzen Welt beeinflusste. Auch für Thompson konstituierte sich Kultur „in den Werten und Sinngebungen, die soziale Gruppen und Klassen in der Auseinan-dersetzung mit gegebenen Bedingungen entwickeln und zum Aus-druck bringen“. Seine Geschichtsschreibung von unten stellte „die Herausbildung der englischen Arbeiterklasse als einen dialektischen Prozeß dar: als Formieren der Klasse durch externe determinierende Faktoren, vor allem aber auch als einen Akt der Selbstschöpfung und Identitäts-bildung“. Sein Konzept der „moralischen Ökonomie“, das er für das Verhalten der englischen Unterschichten im 18. Jahrhundert entworfen hat, ist bis heute einflussreich.

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Es ging ihm um eine Betrachtung von gewissen Vorgängen in der Geschichte – konkret um so genannte Lebensmittelunruhen –, die er nicht lediglich mit Reaktionen auf elementare ökonomische Stimuli erklärt wissen wollte. Vielmehr verweist Thompson darauf, dass der Mensch ein komple-xes soziales Wesen sei, dessen Handlungen und Reaktionsweisen eben auch Vorstellungen von Legitimität beinhalten. Thompson versteht unter Legitimitätsvorstellungen, dass die Männer und Frauen in einem Bewusstsein handelten, traditionelle Rechte und Gebräuche zu verteidigen, und dass sie sich dabei auf die breite Zustimmung des Gemeinwesens stützen konnten. Die Jugendkulturforschung ist ein Paradebeispiel für die Forschun-gen des CCCS. Die Forscher stießen zunächst auf das Problem, dass die Jugend als eine mehr oder weniger homogene Gruppe gesehen wurde, die – in etwa – derjenigen einer Klasse entsprach. Außerdem wurde die Adoleszenz als eine schwierige Zeit und Übergangsphase zum Erwachsenensein eingeschätzt.

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Die Forscher des CCCS beobachteten allerdings die Heterogenität der Jugend und den Einfluss des Klassenbewusstseins auf die Prägung des Generationenbewusstseins. So gelangten sie zu der Erkenntnis, dass von einer homogenen Generation keine Rede sein kann. War die Klasse zunächst nur eine sekundäre Variable, die haupt-sächlich als Vermittlerin von Generationenerfahrungen relevant ist, so hat sich dann die Grundannahme durchgesetzt, dass das Genera-tionsbewusstsein fest mit einem Klassenbewusstsein verankert ist und die kulturellen Artikulationen daher unterschiedlich sind. Es wurde also nicht mehr von einer Jugendkultur, sondern nur noch von Jugend-Subkulturen gesprochen. Die Entstehung der Jugend-Subkulturen konnte dann auf die gleiche Art erklärt werden wie die Entstehung von Klassenkulturen. Die Vertreter des CCCS gehen davon aus, dass in einer Gesell-schaft mehrere Kulturen existieren, die in Herrschafts- und Unterord-nungsbeziehungen zueinander stehen, dass sie quasi einen perma-nenten Konflikt miteinander austragen.

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Die mächtigste der „Kulturen“ ist die so genannte dominante, die herrschende Kultur. Als Stammkultur (auch „parent culture“) bezeichnet man die Klassen-kulturen, da die sozialen Klassen die wichtigsten Gruppen in moder-nen Gesellschaften bilden und diese damit die fundamentalsten kul-turellen Artikulationen liefern. In kapitalistischen Gesellschaften stellt die bürgerliche Klasse die do-minante Kultur dar. Gleichzeitig kann natürlich auch die bürgerliche Kultur als Stamm-kultur bezeichnet werden, jedoch wird in der Regel die Funktion als dominante Kultur diejenige der Stammkulturen überlagern. Die Jugend-Subkulturen sind in diesem System von Klassenkulturen Subsysteme. Es sind kleinere, stärker lokalisierte und differenzierte Strukturen innerhalb der Stammkultur, aus der sie erwachsen und bilden eigenständige Teile derselben. Subkulturen weisen eine eigenständige Struktur und Gestalt auf, anhand derer sie von ihrer Stammkultur zu unterscheiden sind.

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Sie müssen um gewisse Aktivitäten und Werte, um bestimmte For-men des Gebrauchs von materiellen Artefakten, um gewisse Territo-rien zentriert sein, welche sie eindeutig von der umfassenderen Kultur – nämlich der Stammkultur – unterscheiden. Da es sich aber auch um Subsysteme handelt, verfügen sie über signifikante Merkmale, die sie mit der Stammkultur verbinden. Wenn sich solche Subkulturen auch hinsichtlich ihres Alters von den Stammkulturen unterscheiden, dann spricht man von Jugend-Sub-kulturen. Jugendliche Subkulturen sind dementsprechend „genera-tionsspezifische Subsysteme klassenspezifischer Stammkulturen“. Hier wurde erstens ein Schritt zur Auflösung der falschen Dichotomie – entweder Generation oder Klasse – getan. Zweitens liegt das besondere an der Betrachtung der Jugend-Sub-kulturen durch das CCCS nun darin, dass es deren doppelte Artikula-tion erkannt hat, nämlich einerseits im Verhältnis zu ihrer Stamm-kultur und andererseits in ihrer Beziehung zur dominanten Kultur. Zwei wichtige Begriffe sind in diesem Zusammenhang Hegemonie und Ideologie.

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Der Begriff Hegemonie meint so viel wie Oberherrschaft. Wenn über dominante Kultur gesprochen wird, fällt häufig auch der Begriff Hegemonialkultur, was jedoch nicht immer richtig sein muss. Nach Antonio Gramsci – mit dessen Konzept die Vertreter des CCCS hier arbeiten – existiert eine Hegemonie erst dann, wenn es der herrschenden Klasse gelingt, eine untergeordnete Klasse nicht nur zu zwingen, ihren Interessen zu gehorchen, sondern die „totale gesellschaftliche Autorität“ über diese auszuüben. Hegemonie beinhaltet die spontane Zustimmung der untergeord-neten zur Herrschaft der dominanten Klasse. Hegemonie ist also, um es mit Antonio Gramsci zu sagen, die „natürliche soziale Autorität“ der herrschenden Klasse. Den Boden, auf dem diese Hegemonie gewonnen oder verloren wird, bilden die gesellschaftlichen Institutionen der zivilen Gesell-schaft und des Staates. Diese wiederum funktionieren zum Teil durch Ideologie, was bedeutet, dass „die in diesen Apparaten institutionalisierten Definitionen der Realität ... schließlich für die untergeordneten Klassen eine erlebte ‚Realität an sich‘ bilden“.

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Dieses Ideologieverständnis knüpft an Karl Marx an, der argumen-tierte, dass jede Klasse eine ihrer gesellschaftlichen Lage und ihren Interessen entsprechende Ideologie hervorbringt. Die Ideologie ist demnach das Bewusstsein verschiedener Klassen, das nur dann auch ein „falsches Bewusstsein“ ist, wenn es der Auf-rechterhaltung von Herrschaft dient, die der Erkenntnis gesellschaft-licher Realität widerspricht. Ein Beispiel – im Sinne marxistischer Denker – für eine Ideologie der dominanten Kultur über und für die Arbeiterklasse wäre die Wohl-standsideologie der fünfziger Jahre. Sie wurde benutzt, um die Lücken zwischen der realen Ungleichheit und der versprochenen Utopie der Gleichheit für alle und dem stets wachsenden Konsum zu füllen und damit die hegemoniale Ordnung zu sichern. Der Zusammenhang zwischen Hegemonie und Ideologie macht deutlich, dass vorherrschende Ideologien, also vorherrschende Realitätsdiskurse, immer auch die Interessen der herrschenden gesellschaftlichen Gruppe widerspiegeln.

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Der Begriff „Stil“ spielt in der Jugendkulturforschung eine besonders wichtige Rolle und es waren abermals die Vertreter des CCCS, die den bedeutendsten Beitrag zu dieser Debatte beisteuerten. Vor allem Phil Cohen, John Clarke, Dick Hebdige und Paul Willis haben sich intensiv mit Fragen der Stilanalyse auseinandergesetzt, wobei Stil zunächst immer Ausdrucksform einer Subkultur war. Dabei wurde grundsätzlich festgestellt, dass Jugendliche ihre eige-nen „aus der alltäglichen Lebenswelt erwachsenen Erfahrungen, Handlungsmuster und Orientierungsweisen haben, die in ihrem Stil zum Ausdruck kommen können. Phil Cohen, der sich als erster intensiv mit den subkulturellen Stilen beschäftigt hatte, definierte die Subkultur als eine Kompromisslö-sung zwischen zwei gegensätzlichen Bedürfnissen: dem Bedürfnis, Unabhängigkeit und Verschiedenheit von der Elternkultur auszudrü-cken, und dem Bedürfnis, die elterliche Identifikation zu bewahren. Für ihn hatte Subkultur die latente Funktion, diejenigen Widersprü-che auszudrücken und – wenn auch magisch – zu lösen, die verbor-gen oder ungelöst in der Elternkultur verblieben sind. Für John Clarke wurden die subkulturellen Stilformen in der Freizeit am sichtbarsten, wobei es sich auch bei den Freizeitaktivitäten um Formen des Ausdrucks von Erfahrungen der ganzen Klasse handelt.

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Um den Prozess der Stilschöpfung beschreiben zu können, wurde auf den französischen Anthropologen Claude Lévi-Strauss und seinen Begriff der Bricolage zurückgegriffen. Bricolage oder Bastelei meint die Neuordnung und Rekontextualisie-rung von Objekten, um neue Bedeutungen zu kommunizieren, und zwar innerhalb eines Gesamtsystems von Bedeutungen, das bereits andere, den gebrauchten Objekten anhaftende Bedeutungen enthält. Objekt und Bedeutung bilden zusammen ein Zeichen, und in jeder Kultur werden solche Zeichen immer wieder zu charakteristischen Diskursformen gruppiert. Wenn aber der bricoleur das signifikante Objekt innerhalb dieses Diskurses in eine andere Position versetzt, und zwar unter Verwen-dung des gleichen Gesamtrepertoires an Zeichen, oder wenn das Objekt in eine andere Gesamtheit von Zeichen versetzt wird, dann entsteht ein neuer Diskurs, und eine andere Botschaft wird vermit-telt.“ Der subkulturelle bricoleur muss sich auf eine grundlegende Diskurs-form beziehen, wenn er eine Botschaft kommunizieren will – das ist der Diskurs der Mode.

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Wie Lévi-Strauss Mythenbastler ist auch der Subkulturbricoleur den vorhandenen Bedeutungen der Zeichen innerhalb eines Diskurses unterworfen. Das heißt, die Objekte, aus denen ein neuer subkultu-reller Stil zusammengesetzt wird, müssen nicht nur bereits existie-ren, sondern sie müssen auch allseits bekannte Bedeutungen ent-halten, damit die Transformation, die sie im neuen Kontext erfahren, erkennbar ist. Die Elemente dieses subkulturellen Stils sind in der Regel Waren, die für spezifische Märkte produziert wurden. Die Waren müssen für jene Leute aber auch erreichbar sein, die sie transformieren wollen, daher bleibt ihre Verwendung immer auch in einem gewissen Klassenverhältnis. Die Schaffung von Objekten und Bedeutungen entsteht also nicht aus dem Nichts, sondern es handelt sich vielmehr um die Transfor-mation von Gegebenem in ein Muster, das eine neue Bedeutung vermittelt. Die Elemente des Stils, das kann von der Körpersprache bis zur Kleidung reichen, sind nicht zufällig, sondern sie sind den Werten der stilbildenden Gruppe homolog.

31 Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur
Die Elemente des Stils sind so nichts anderes als das nach außen verlagerte Selbstbild der Gruppenmitglieder. Um gewisse symbolische Objekte zu übernehmen, muss eine Grup-pe sich in den mehr oder minder verdrängten potentiellen Bedeutun-gen dieser Objekte wiedererkennen. Die Gruppe muss auch über ein gewisses Selbstbewusstsein verfü-gen, um einen Stil schaffen zu können. Aber die Gruppenidentität, die auch im Stil ihren Ausdruck findet, entsteht nicht nur durch gruppeninterne Prozesse, sondern auch durch die Auseinandersetzung mit anderen Gruppen. Häufig wird diese Abgrenzung nur gegenüber anderen Jugendsub-kulturen gesehen, aber sie reicht weit darüber hinaus. Die Beziehungen der Subkultur zu verschiedenen Außengruppen manifestiert sich nicht primär in den symbolischen Aspekten des Stils (Kleidung, Musik usw.), sondern zeigt sich in der ganzen Skala von Aktivitäten, Kontexten und Objekten, die zusammen das Stil-Ensemble bilden.

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Die Elemente des Stils sind so nichts anderes als das nach außen verlagerte Selbstbild der Gruppenmitglieder. Um gewisse symbolische Objekte zu übernehmen, muss eine Grup-pe sich in den mehr oder minder verdrängten potentiellen Bedeutun-gen dieser Objekte wiedererkennen. Die Gruppe muss auch über ein gewisses Selbstbewusstsein verfü-gen, um einen Stil schaffen zu können. Aber die Gruppenidentität, die auch im Stil ihren Ausdruck findet, entsteht nicht nur durch gruppeninterne Prozesse, sondern auch durch die Auseinandersetzung mit anderen Gruppen. Ähnlich wie Cohen und Clarke betont auch Dick Hebdige in seinem zum Klassiker gewordenen Buch „Subculture. The Meaning of Style“ den widerständigen Charakter subkultureller Stile. Er versteht Stil als eine Form der Verweigerung, als eine Dialektik zwischen Aktion und Reaktion, die manche Objekte bedeutungsvoll werden lässt.

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Durch ein einziges Objekt, so Hebdige, können sich die Spannungen zwischen herrschenden und untergeordneten Gruppen in den aus banalen Objekten mit doppelten Bedeutungen gemachten Stilen spiegeln. Hebdige geht es dabei um Prozesse, durch die Objekte bedeutsam werden und in einem subkulturellen Stil zum Ausdruck gelangen. Dieser Prozess beginnt für Hebdige mit einem „Verbrechen gegen die Ordnung“, auch wenn diese Abweichung gering ist. Und der Prozess endet mit der Konstruktion eines Stils, der Verweigerung signalisiert. Diese Verweigerung hat gute Gründe und daher haben der Stil und die Formen seines Ausdrucks einen gewissen subversiven Charakter. Ein Beispiel bei Hebdige sind die sog. Teddy Boys oder Teds, sie rekrutierten sich aus der Schicht der ungelernten Arbeiter. Als Zeichen ihrer Ablehnung des trüben Alltags von Schule, Job und Familie legten sie sich einen übertriebenen Stil zu, der zwei unverfroren geplünderte Formen gegeneinander stellte: schwarzen Rhythm & Blues und aristokratische Anleihen in der Kleidung.

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Ausgangspunkt der Bewegung war ein kommerzielles Modeangebot der Schneider aus der eleganten Savile Row, die auf den Gedanken gekommen waren, um den Absatz zu heben, für den Mann auf der Straße den Edwardian Style verfügbar zu machen. König Edward war ein Modefan und Dandy und ein bisschen das schwarze Schaf des Königshauses, wodurch er den Jugendlichen ein Rollenmodell als Provokateur war. Durch die Verwendung seines Anzugsstils schafften sie eine ironische Identifikation. Mittels Mode bewegten sie sich aus ihrer eigenen Klasse heraus und schufen einen städtisch-romantischen Jugendstil. Sie trugen lange taillierte Jacken mit Weste, dazu enge Hosen, Schuhe mit breiten Bändern und weiße Hemden mit weitem Kragen sowie eine Windsorknotenkrawatte. Die Teds übertrieben dabei die Edwardsche Vorgabe noch, wählten farbige Schnürsenkel sowie Schlipse, und sie liebten grellfarbige Wildlederschuhe.

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Die Frisuren dagegen blieben häufig proletarisch-pomade-glänzende Haare. Indem sie sich eine historische Mode aneigneten, bekannten sie sich nicht nur zu ihrem Außenseitertum, sondern sie verspotteten gleichzeitig die ‚gute Gesellschaft‘, der sie nicht zugehören konnten und wollten. Die Revolte lag sozusagen nicht in politischem Handeln, sondern in der verwirrenden Zitation von Modestilen, die einer anderen, der aristokratischen Klasse zugehörten. Die Teds zitieren diesen Stil nicht, um eine Klassenzugehörigkeit zu signalisieren, die ihnen nicht zusteht, sondern um die ererbten Zeichen der Kleiderordnung endgültig zu entmachten. Einen anderen Subkulturstil kreierten die Mods, sie waren in ihrer Erscheinung subtiler und zahmer: sie trugen offensichtlich konservative Anzüge in respektablen Farben und waren geradezu pedantisch sauber und ordentlich. Mit ihrem Stil konnten sie geschickt zwischen Schule, Arbeit und Freizeit lavieren – der Stil verbarg mehr, als er zeigte.

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Sie trieben Ordentlichkeit und Sauberkeit bis zur Absurdität und un-tergruben so die konventionelle Bedeutung von ‚Anzug, Hemd und Kragen. Die Mods waren fester in Jobs eingespannt, die strenge Anforderungen an Erscheinung, Pünktlichkeit etc. hatten, weshalb sie ihre Freizeitaktivitäten auf das Wochenende verlagerten. Diese Zeiten versuchten sie dann mit Amphetaminen auszudehnen. Ein dritter bedeutender Stil, der in den Blick der Subkulturforscher geriet, war schließlich der Punk. 1976 wurde in der Nähe der King’s Road in Londons Südwesten ein Stil geboren, der zusammengewürfelte Elemente aus einer ganzen Reihe heterogener Jugendstile miteinander kombinierte (in Bezug auf Kleidung, Musik etc.). Das ganze bunte Durcheinander – mit Sicherheitsnadeln buchstäblich zusammengehalten – wurde zu jenem gefeierten und auch überaus fotogenen Phänomen, das als Punk ab 1977 die Medien und damit die breitere Öffentlichkeit eroberte.

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Punk reproduzierte sämtliche Kleidungsstile der Nachkriegsjugend-subkulturen und kombinierte die verschiedenen Elemente zu einer zerschnipselten Collage. Auch der Punk hatte – wie der Rhythm & Blues der Teds – schwarze Vorbilder, nämlich den Reggae. Reggae war als „Musik der schwarzen Bevölkerung“ ein Fremdkörper in der Hauptströmung der britischen Kultur, die ihn als eine Art Bedrohung empfand. Damit befand sich der Reggae im Einklang mit den vom Punk aufgestellten Werten: Anarchie, Kapitulation und Untergang. Der Punk produzierte quasi zu den Krisen des modernen Lebens (Arbeitslosigkeit, Wirtschaftskrise etc.) die entsprechenden Gegenstände und ikonenhafte Bilder (Sicherheitsnadeln, zerrissene Klamotten etc.) Dies kann gelesen werden als Zustand völliger Isolierung und Entfremdung, als ein freiwilliges Exil, das den hoffnungslosen Zustand der weißen britischen Jugend ausdrücken sollte.

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Die Verbreitung subkultureller Stile durch Medien und Modein-dustrien beinhaltet auch bereits ihre Auflösung. Clarke konstatiert eine Ausbeutung subkultureller Stilformen durch die dominante Kultur. Als positives Resultat dieser Ausbeutung sieht er massive kommer-zielle Investitionen im Sektor der Jugendmoden. Als negative Auswirkung nennt er die Verwendung von Stil-Charak-terisierungen als bequeme Stereotypen, um Gruppen, die als „anti-sozial“ gelten, zu identifizieren und zu isolieren. Rolf Lindner meinte, „daß auch ein subkultureller Stil den Weg alles Irdischen innerhalb der auf Neuerungen angewiesenen Konsum- und Kulturindustrie geht und schließlich als Modevariante, ein wenig geglättet, in den Regalen der Shopping Centres endet“. Darin unter anderem liegen für Clarke auch die Grenzen des Stils, wenn er darauf hinweist, dass die Klassenwidersprüche der Jugendsubkultur auch im Stil nicht gelöst werden können, weil dieser in der Freizeit entworfen wird und nicht dort, wo die Widersprüche entstehen.

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Paul Willis: Learning to labour. How Working Class Kids get Working Class Jobs. Aldershot 1977. Dieses Buch behandelt die Ergebnisse eines Projekts, das zwischen 1972 und 1975 durchgeführt wurde und das den Übergang von Jun-gen aus der Arbeiterklasse ohne höhere Schulbildung ins Arbeits-leben untersuchte. Methodisch arbeitete Willis mit Fallstudien, Interviews, Gruppendis-kussionen und teilnehmender Beobachtung bei Arbeiterjungen wäh-rend der letzten beiden Schuljahre und den ersten Arbeitsmonaten. Der erste Teil des Buches ist eine Ethnographie der Schule, beson-ders der oppositionellen Arbeiterkultur in dieser. Der zweite Teil „analysiert die innere Bedeutung, Rationalität und Dynamik der vorher geschilderten kulturellen Prozesse und erklärt, wie sie einerseits zur Arbeiterkultur im allgemeinen und andererseits – eher unerwartet – zur Erhaltung und Reproduktion der Gesell-schaftsordnung beitragen“.

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Wichtig ist Willis’ Verständnis des Kulturellen, das er als ein Produkt einer kollektiven menschlichen Praxis ansieht Sein Untersuchungsort ist eine archetypische englische Industriestadt und er untersuchte eine Hauptgruppe mit 12 Jugendlichen und verschiedenen Vergleichsgruppen. Die von ihm erforschten Jugendlichen sind die so genannten lads, die in der Schule eine Gegen-Kultur bilden. Die wichtigste und expliziteste Dimension dieser „Gegen-Schul-Kultur“ ist die tief verwurzelte Opposition gegen die „Autorität“. Diese Opposition kommt als Stil zum Ausdruck, es handelt sich beinahe um ein tägliches Ritual. Nicht alle Schüler gehören dieser Gegen-Kultur an. Die Lads sehen sich selbst als die Nonkonformisten, die sich von den Konformisten unterscheiden, die sie als „ear’oles“ (Ohrlöcher) oder „lobes“ (Lappen) bezeichnen. Konkret wird ihre Opposition in stilistisch-symbolischen Diskursen, die sich neben allgemeinen Widerstandspraktiken vor allem um drei Konsumgüter drehen: Kleidung, Zigaretten und Alkohol.

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Für die lads gibt es den Gegensatz von Formellem (die Schule mit ihrer Struktur) und Informellem (die Gruppe mit ihrer eigen Struktur). Die lads wollen die Regeln der Schule symbolisch und physisch brechen, sie konstruieren dafür einen eigenen Tagesablauf mit eigenen Tätigkeiten. Während die Lehrer und die anderen Schüler der Auffassung sind, die lads würden ihre Zeit verschwenden, gibt es für die lads kein höheres Gut, als die Zeit miteinander zu verbringen. Das Lachen ist ein wesentlicher Aspekt für die lads, es ist das bevor-zugte Instrument der informellen Gruppenstruktur, sowie der Befehl das bevorzugte Instrument der formellen Struktur der Schule ist. Obwohl sie eine Gegenposition zur Schule einnehmen, ist den lads offensichtliche Dummheit zuwider. Das Anpöbeln ist dabei eine besondere Spielart zu testen, ob jemand clever ist. Die Seele ihres Humors, so Willis, ist die Verächtlichmachung: das dauernde Aufspüren von Schwächen. Es braucht Geschicklichkeit und kulturelles Knowhow, um solche Attacken zu führen, und noch mehr, um ihnen zu widerstehen.

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Auch die Gewalt spielt eine wesentliche Rolle, viele wichtige Werte finden in der Schlägerei ihren Ausdruck. In der Freizeit sind Kleidung, Musik und körperliches Gebaren von besonderer Bedeutung. Ein lad geht abends aus und entwickelt ein soziales Verständnis nicht nur für die Schule, sondern auch für die Nachbarschaft, die Straßen und die Stadt im allgemeinen. Geld spielt dabei eine wichtige Rolle, weil es die Voraussetzung für Konsum ist. Die einzige von den lads anerkannte Quelle der Weltklugheit ist die Arbeitswelt der Arbeiterklasse. Zwei Gruppen, gegen die sich die „lads“ ebenfalls definieren, sind Mädchen und ethnische Minderheiten. Eine wesentliche Erkenntnis, die Willis in seiner Untersuchung herausfand liegt in der strukturellen Ähnlichkeit, die die GegenSchulkultur mit der Betriebskultur aufweist. In den Betrieben würden die Arbeiter sich eine an sich entfremdete Situation aneignen mit einem Streifen Interesse und Abwechslung durchweben – ähnliches versuchen die lads in der Schule.

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Willis beschreibt – wie auch andere Arbeiterkulturforscher –, dass die Arbeiter versuchen informelle Kontrolle über den Arbeitsprozess zu erlangen. Wie die Gegen-Schulkultur ist die Betriebskultur jene Zone, wo Strategien ersonnen und verbreitet werden, um der offiziellen Autorität die Kontrolle über symbolische und reale Freiräume abzutrotzen. Diese informelle Organisation unterscheidet nach Willis diese Betriebskultur von Arbeiterkulturen der Mittelschicht. Die Ablehnung der Schularbeit durch die ‚lads‘ und ihr jederzeit vor-handenes Gefühl, was Besseres zu tun zu haben, findet eine Paral-lele in der im Betrieb und in der Arbeiterschaft allgemein vertretenen Überzeugung, dass die Praxis wichtiger sei als die Theorie. Einerseits erkennen die Arbeiter damit zwar, dass Theorie nur dann nützlich ist, wenn sie hilft praktische Aufgaben zu lösen. Andererseits verkennen sie allerdings, dass Theorie auch unabhängig davon – nämlich in ihrer gesellschaftlichen Erscheinung als Qualifikation – ein Machtmittel zum Aufstieg auf der sozialen Stufenleiter ist.

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Willis will an seinem Beispiel die Vermittlung von Klassenkonflikten und die Reproduktion der Klassen in der kapitalistischen Gesellschaftsordnung zeigen. Sein Beispiel führe sogar die unbeabsichtigte Konsequenz vor Augen, wie Klassenkultur und Struktur der Gesellschaft sich selbst reproduzieren. Für das System Schule hat das massive Auswirkungen, weil der Lehrer seine Autorität nicht mit Zwang durchsetzen kann, sondern nur aus moralischen Gründen. Dafür ist er aber auf die Zustimmung der Schüler angewiesen. Die untersuchten Arbeiterjungen, die sich den dominanten Werten, dass Wissen gegen Leistung getauscht wird, verweigern und sich somit von der Schulautorität differenzieren, haben hinter sich den kulturellen Anspruch der Arbeiterkultur. Eine gewisse Zeit ihres Lebens, so Willis, glaubten die lads, in einem Turm zu hausen, in den Kummer nicht eindringen kann. Diese Zeit des unzerstörbaren Vertrauens entspricht gerade der Zeit, wo alle wichtigen Entscheidungen ihres Lebens zu ihrem Nachteil gefallen sind – und dies ist einer der Hauptwidersprüche der Arbeiterkultur und ihrer sozialen Reproduktion.

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Für die Lehrer ist es ebenfalls eine schwierige Situation, denn für sie ist das anerkannte Erziehungsparadigma so selbstverständlich, dass sie sein Scheitern nicht verstehen können. Daher entwickeln sie eine sarkastische, herablassende Haltung, die auch als eine Klassen-Beleidigung verstanden werden kann. So entsteht die Situation, dass die lads das Unterrichtsparadigma als Zwang empfinden und dagegen rebellieren, die Lehrer wiederum diese Rebellion als Bosheit empfinden, gegen die sie sich ihrerseits mit Kränkungen wehren. Das Verhalten der lads in der Schule hat ein Äquivalent in den Betrieben, denn die Väter erzählen ihren Kindern davon, dass sie dort ebenfalls „Blödsinn“ machen. Arbeit wird nach Willis hier auch gar nicht als Sinnerfüllung gesehen, sie dient eher als Voraussetzung zur Befriedigung gewisser Gruppenbedürfnisse.

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So steht die physische Arbeit für Maskulinität und Opposition gegen die Autorität – zumindest wie diese in der Schule erfahren wird. Sie drückt Aggressivität aus; ferner ein gewisses Maß an Scharfsinn und Schläue; eine Unehrerbietigkeit, die in Worten nicht auszudrücken ist; eine spürbare Solidarität. Sie bietet das nötige Kleingeld zur Befriedigung von Erwachsenen-Bedürfnissen und demonstriert potentielle Herrschaft über Frauen, wie auch eine unmittelbare Anziehung auf diese: eine Art Machismo. Diese Arbeiterkultur, aus der die lads also ihre kulturellen Wurzeln ziehen und die ihnen in dieser Phase des Übergangs von der Schule ins Erwerbsleben Kraft und Handlungsanleitung gibt, ist nach Willis nicht durch Überhöhung und Überlegenheit gekennzeichnet, sondern eher durch Kompromiss und Selbstbescheidung. Sie ist ein kreativer Versuch, aus schweren Bedingungen das Beste zu machen. Eine gewisse Zeit ihres Lebens, so Willis, glaubten die lads, in einem Turm zu hausen, in den Kummer nicht eindringen kann. Diese Zeit des unzerstörbaren Vertrauens entspricht gerade der Zeit, wo alle wichtigen Entscheidungen ihres Lebens zu ihrem Nachteil gefallen sind – und dies ist einer der Hauptwidersprüche der Arbeiterkultur und ihrer sozialen Reproduktion.

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Die Cultural Studies Birminghamer Prägung, aber auch in der Nachfolge des CCCS haben die Kulturwissenschaften massiv beeinflusst und gemeinsam mit Erkenntnissen aus verschiedenen anderen Richtungen den Blick für folgende Aspekte geschärft: Cultural Studies geht es unter anderem darum, darauf hat Lawrence Grossberg aufmerksam gemacht, Kultur als ein Feld zu betrachten, „in dem Macht produziert und um sie gerungen wird. Dabei wird Macht nicht unbedingt als Form der Vorherrschaft verstanden, sondern als eine ungleiche Beziehung von Kräften im Interesse bestimmter gesellschaftlicher Gruppen. Das Projekt Cultural Studies ist also auch politisch motiviert. Es hat sich der Produktion von Wissen verschrieben, welches helfen soll zu verstehen, dass man die Welt verändern kann und wie man sie verändern kann. Stuart Hall hat einmal bemerkt, das wesentlichste Problem für die Intellektuellen wie für die Universitäten sei, zu verstehen, was das Leben, das wir leben, und die Gesellschaft, in der wir leben, zutiefst unmenschlich macht.

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Ein weiterer wesentlicher Punkt der Erkenntnis liegt in der Überwin-dung der Kulturindustriethese, die – verkürzt dargestellt – einer Ma-nipulation der Konsumenten und Rezipienten das Wort redet. Passi-ve Konsumenten sind demgemäß einer unaufhörlichen Flut seriell hergestellter Unterhaltungsprodukte ausgeliefert. Demgegenüber ha-ben die Cultural Studies den eigensinnigen, widerständigen und kre-ativen Umgang mit den populären Medien und Konsumgütern ge-zeigt. Bei den Cultural Studies ist die Popularkultur offenes Terrain, auf dem kulturell-ideologische Kämpfe ausgetragen werden, deren Er-gebnis nicht von vornherein feststeht. Es ist gerade die Spannung, das Ringen zwischen Autonomie und Vereinnahmung, Authentizität und Korrumpierung, Widerstand und Anpassung, das an diesen Prozessen fasziniert. Das Verständnis der Cultural Studies legt dementsprechend auch Wert auf die Praxis der Menschen. Zwar wird der Einfluss von kulturellen Mustern auf menschliches Handeln nicht geleugnet, aber gleichzeitig wird der Handlungsaspekt der Menschen betont und somit auch die aktive Mitgestaltung an der Strukturierung von Kultur.

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Schade ist, dass die Arbeiten des CCCS in der deutschsprachigen Forschung großteils ziemlich verkürzt und einseitig rezipiert wurden. Es wurde nur auf den Klassenaspekt abgehoben und damit eine Vergleichbarkeit mit deutschen oder mitteleuropäischen Verhältnis-sen bestritten. Diese Sichtweise verkürzt aber die grundsätzlichen Erkenntnisse des CCCS, die über den spezifischen geographischen und sozialen Kontext Großbritanniens hinausweisen. Eine gewisse Schwäche der Jugendkulturforschung des CCCS liegt sicherlich in seiner Fokussierung auf männliche und auffällige Jugendkulturen.

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Nach den Cultural Studies soll als nächstes ein semiotischer Kulturbegriff diskutiert werden. Die Definition von Kultur ist ein schwieriges Unterfangen, weil es nahezu unendlich viele Definitionen von Kultur gibt etwa haben Alfred Kroeber und Clyde Kluckhohn in ihrem Buch „Culture“ 175 verschiedene Definitionen von Kultur aufgezählt. Nicht alle Definitionen unterscheiden sich allerdings vollständig. Erstens gab es so etwas wie eine totalistische Betrachtungsweise, die auf den berühmten Kulturbegriff von E. P. Tylor aus dem Jahr 1871 zurückgeht. Nach Tylor ist Kultur „jenes komplexe Ganze, welches Wissen, Glauben, Kunst, Moral, Recht, Sitte und Brauch und alle anderen Fähigkeiten und Gewohnheiten einschließt, welche der Mensch als Mitglied der Gesellschaft erworben hat“. Diese umfassende Definition hat wiederum zwei Probleme, dass nämlich erstens alles Kultur ist und zweitens der Verweis auf das, was der Mensch erworben hat, zu wenig auf den aktiven und gestalterischen Anteil des Menschen eingeht.

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Zweitens gab es in diesen frühen Definitionen so etwas wie eine mentalistische Betrachtungsweise, nach der Kultur ein ideenbildendes oder gedankliches System ist, also ein System von gemeinsamen Wissensinhalten und Glaubensvorstellungen, mit Hilfe derer Menschen ihre Wahrnehmungen und Erfahrungen ordnen und Entscheidungen treffen und in deren Sinne sie handeln. Sie ist also ein System von sozial verteilten Ideen, eine Art von gedanklichem Code, dessen sich die Menschen bedienen, um sich selbst und die Welt zu interpretieren und ihre Handlungen auszudrücken. Kultur ist also eher ein System von Regeln oder ein Muster für das Verhalten als ein wahrgenommenes Muster des Verhaltens. Auch hier bleiben zwei Probleme – nämlich die Frage nach der Veränderbarkeit der Regeln oder des Codes und die Frage nach der jeweiligen Praxis, ob nämlich und in welcher Form sich diese Codes und Regeln im Verhalten wirklich niederschlagen.

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Um dem Dilemma der Definitionen zu entkommen, hat Helge Gerndt etwa gemeint, es sei nicht notwendig Kultur zu definieren, weil Kultur der Kulturwissenschaft ebenso wenig ein scharf ausgegrenzter ana-lytischer Begriff sein kann wie den Psychologen die „Psyche“ oder den Biologen „Leben“. Immer handle es sich um lockere Umschrei-bungen für Arbeitsfelder, um allgemeine Verständnisbegriffe. Einer der erfolgreichsten Versuche, Kultur zu fassen, stammt von dem amerikanischen Kulturanthropologen Clifford Geertz. Geertz bezieht sich auf einen semiotischen Kulturbegriff. „Der Kulturbegriff, den ich vertrete, ist wesentlich ein semiotischer. Ich meine mit Max Weber, dass der Mensch ein Wesen ist, das in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist, wobei ich Kultur als dieses Gewebe ansehe. Ihre Untersuchung ist daher keine experimentelle Wissenschaft, die nach Gesetzen sucht, sondern eine interpretierende, die nach Bedeutungen sucht.“ Um eine Wissenschaft zu verstehen, so Geertz, müsse man sich ansehen, was diese Wissenschaftler tun.

53 Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur
In der Kulturanthropologie arbeiten die Praktiker ethnografisch und nach der Darstellung in den Lehrbüchern bedeutet ethnografisch zu arbeiten folgendes: die Herstellung einer Beziehung zu den Untersuchten, die Auswahl von Informanten, die Transkription von Texten, die Niederschrift von Genealogien, das Kartographieren von Feldern, das Führen eines Tagebuchs und so fort. Aber nicht diese Techniken und Verfahrensweisen, die diese Forschungsarbeit bestimmen, sind entscheidend, sondern es sei die besondere geistige Anstrengung, die hinter allem steht, das komplizierte intellektuelle Wagnis der „dichten Beschreibung“. Dichte Beschreibung ist jener Begriff, der heute mit Geertz assoziiert wird, obwohl er ihn von dem britischen Philosophen Gilbert Ryle ( ) entliehen hat. Ryle bringt ein gutes Beispiel dichter Beschreibung: das Zwinkern. Stellen wir uns zwei Knaben vor, die blitzschnell das Lid des rechten Auges bewegen. Beim einen ist es ein ungewolltes Zucken, beim anderen ein heimliches Zeichen an seinen Freund. Als Bewegungen sind die beiden Bewegungen identisch.

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Es besteht jedoch ein gewichtiger Unterschied zwischen Zucken und Zwinkern. Das weiß jeder, der irrtümlicher Weise etwa ein Zucken für ein Zwinkern hält. Wenn also jemand zwinkert und nicht zuckt, dann teilt er etwas auf ganz präzise und besondere Weise mit 1. richtet er sich absichtlich 2. an jemand Bestimmten, um 3. eine bestimmte Botschaft zu übermitteln, und zwar 4. nach einem gesellschaftlich festgelegten Code, ohne dass 5. die übrigen Anwesenden eingeweiht sind. Es ist nun nicht so, dass der Zwinkerer zwei Dinge tut – nämlich sein Augenlid bewegt und zwinkert, während der Zuckende nur sein Augenlid bewegt. Erst durch den öffentlichen Code, demzufolge das absichtliche Bewegen des Augenlids als geheimes Zeichen gilt, wird das Zucken zum Zwinkern. Wie resümiert Geertz: Das ist alles, was es dazu zu sagen gibt: ein bisschen Verhalten, ein wenig Kultur und – voilà – eine Gebärde.

55 Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur
Geertz und Ryle führen das Beispiel weiter und zeigen, dass man dabei auch nachahmen, parodieren oder proben kann. Und wenn der erste Knabe gar nicht gezwinkert hätte, würden sich alle nachfolgenden Aspekte ebenfalls verschieben. Wichtig ist nun, so Geertz, dass zwischen einer „dünnen Beschreibung“ dessen, was diese Knaben tun (nämlich schnell das Augenlid bewegen) und einer „dichten Beschreibung“ dieser Tätigkeit (z.B. so tun, als ob man zwinkerte, um jemanden Glauben zu machen, es sei eine geheime Verabredung in Gang) der Gegenstand der Ethnographie angesiedelt ist: „eine geschichtete Hierarchie bedeutungsvoller Strukturen, in deren Rahmen Zucken, Zwinkern, Scheinzwinkern, Parodien und geprobte Parodien produziert, verstanden und interpretiert werden“. Wie wir am Beispiel des Zwinkerns deutlich erkennen konnten, ist die volkskundliche und ethnologische Forschung keine Sache der Beobachtung (so wichtig die Beobachtung als Methode sein mag), sondern eine der Interpretation.

56 Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur
Eine Wissenschaft wie die Volkskunde oder die Ethnologie versucht, das Beobachtete zu analysieren. Nach Geertz geht es bei der Ana-lyse um das Herausarbeiten von Bedeutungsstrukturen und das Bestimmen der gesellschaftlichen Grundlagen und Tragweite dieser Bedeutungsstrukturen. Für ihn ist die Ethnographie dichte Beschreibung und der Ethno-graph oder die Ethnographin hat mit einer Vielfalt komplexer, oft übereinander gelagerter oder ineinander verwobener Vorstellungs-strukturen zu tun. Diese sind fremdartig, ungeordnet, verborgen und sie müssen zu fassen versucht werden. Ethnographie betreiben gleicht also dem Versuch, ein Manuskript zu lesen, das fremdartig, verblasst, unvollständig, voll von Widersprü-chen, fragwürdigen Verbesserungen und tendenziösen Kommenta-ren ist, aber nicht in konventionellen Lautzeichen, sondern in ver-gänglichen Beispielen geformten Verhaltens geschrieben ist. Geertz wendet sich gegen verschiedene ethnologische Ausrichtungen, vor allem aber gegen die kognitive Anthropologie, derzufolge „Kultur sich aus psychologischen Strukturen zusammen setzt, mit deren Hilfe einzelne Menschen oder Gruppen von Menschen ihr Verhalten lenken“.

57 Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur
Will man auf diese Weise Kultur beschreiben, so braucht man nur ein System von Regeln aufzustellen, denen ein Mensch gehorchen muss, um als „Eingeborener“ zu gelten Aber, das ist das Entscheidende, die Regeln sind nicht die Kultur. Kultur ist öffentlich, weil Bedeutung etwas Öffentliches ist. Man kann nicht zwinkern, ohne zu wissen, was man unter Zwinkern versteht, aber das Wissen über das Zwinkern ist nicht das Zwinkern selbst. Wenn wir also sagen, Kultur besteht aus sozial festgelegten Bedeutungsstrukturen, in deren Rahmen Menschen sich zuzwinkern, um damit etwas zu signalisieren, so folgt daraus nicht, dass es sich dabei um ein psychologisches oder mentales Phänomen handelt. Was uns behindert andere (oder auch die eigene) Kultur zu verstehen, ist nicht die Unkenntnis darüber, wie Erkennen vor sich geht, sondern der Mangel an Vertrautheit mit der Vorstellungswelt, innerhalb derer die Handlungen von Menschen Zeichen sind. Mit Ludwig Wittgenstein argumentiert Geertz, das Problem beim Ver-ständnis anderer Menschen liege nicht an fehlender Sprachkenntnis, sondern daran, dass wir uns nicht in sie finden können.

58 Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur
Genau das sei das schwierige oder sogar entmutigende Unterfangen der Ethnologie. Und in dem Versuch festzuhalten, auf welcher Grundlage wir uns in sie gefunden zu haben meinen, besteht die ethnologische Schriftstellerei als wissenschaftliches Projekt. Wenn wir kulturelle Phänomene untersuchen, wollen wir mit den Un-tersuchten nicht gleich werden und wir wollen sie auch nicht nachah-men. Wir wollen mit Ihnen ins Gespräch kommen, uns mit ihnen aus-tauschen, und zwar in jenem weiteren Sinn des Wortes, der mehr als nur Reden meint. So betrachtet ist ein Ziel – neben anderen Zielen – der Ethnologie die Erweiterung des Diskursuniversums. Dafür eignet sich ein semiotischer Kulturbegriff besonders. Als ineinandergreifende Systeme analysierbarer Zeichen ist Kultur ein Kontext, ein Rahmen, in dem sie verständlich beschreibbar ist. Das Verstehen der Kultur eines Volkes (einer Gruppe, eines Milieus) führt dazu, seine Normalität zu enthüllen, ohne dass seine Besonderheit dabei zu kurz käme.

59 Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur
Die Schwierigkeit aber, die Perspektive Handelnder einzunehmen oder einen Verstehens-Ansatz oder eine emische Analyse zu betrei-ben, liegt in der ethnologischen Interpretation. Ethnologische Schrif-ten sind immer Interpretationen und obendrein solcher zweiter und dritter Ordnung. (Nur ein „Eingeborener“ liefert Informationen erster Ordnung – es ist seine Kultur). Ethnologische Schriften sind Fiktionen, und zwar in dem Sinn, dass sie etwas Gemachtes sind, ‚etwas Hergestelltes’, nicht in dem Sinne, dass sie falsch wären oder nicht den Tatsachen entsprächen. Kultur gibt es sozusagen in der Welt, Ethnologie nur in den Repräsentatio-nen. Die Fähigkeit des Ethnologen liegt nun darin, ob er – um auf das Ausgangsbeispiel zurückzukommen – Zwinkern von Zucken und wirkliches Zwinkern von parodiertem Zwinkern unterscheiden kann. Nicht Kohärenz ist der Gültigkeitsbeweis für die Beschreibung einer Kultur, obwohl kulturelle Systeme ein Mindestmaß an Kohärenz be-nötigen. Die Gültigkeit von Interpretationen liegt nicht in ihrer zusam-mengefügten Stringenz. Eine gute ethnologische Interpretation „ver-setzt uns mitten hinein in das, was interpretiert wird“.

60 Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur
Es gibt – nach Geertz – vier Merkmale ethnographischer Beschreibung: 1. sie ist deutend 2. was sie deutet, ist der Ablauf des sozialen Diskurses 3. das Deuten besteht darin, das „Gesagte“ eines solchen Diskurses dem vergänglichen Augenblick zu entreißen 4. sie sind mikroskopisch. „Das soll nun nicht heißen, daß es keine groß angelegten ethnologi-schen Interpretationen ganzer Gesellschaften, Zivilisationen, Welt-ereignisse usw. geben könne.“ Wir nähern uns umfassenden Interpretationen allerdings von der „intensiven Bekanntschaft mit äußerst kleinen Sachen“. „Der Angelpunkt des semiotischen Ansatzes liegt, wie bereits gesagt, darin, daß er uns einen Zugang zur Gedankenwelt der von uns untersuchten Subjekte erschließt, so daß wir – in einem weiteren Sinn des Wortes – ein Gespräch mit ihnen führen können.“

61 Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur
„Die Spannung zwischen dieser Notwendigkeit, ein fremdes Univer-sum symbolischen Handelns zu durchdringen, und den Erfordernis-sen eines technischen Fortschritts in der Kulturtheorie, zwischen der Notwendigkeit zu verstehen und der Notwendigkeit zu analysieren, ist demzufolge notgedrungen groß und unaufhebbar zugleich.“ Wichtige theoretische Beiträge finden sich daher immer in konkreten Untersuchungen, weshalb eine „reine Kulturtheorie“ nur sehr scher zu erbringen ist. „Es wird also unterschieden zwischen dem Festhalten der Bedeu-tung, die bestimmte soziale Handlungen für die Akteure besitzen, und der möglichst expliziten Aussage darüber, was das so erwor-bene Wissen über die Gesellschaft, in der man es vorfand, und darü-ber hinaus über das soziale Leben im allgemeinen mitteilt.“ Die Theorie der Ethnographie soll ein Vokabular bereit stellen, um das Wissen über die Rolle der Kultur im menschlichen Leben auszudrücken. Für Geertz ist die Untersuchung von Kultur ihrem Wesen nach un-vollständig. Und je tiefer sie geht, desto unvollständiger wird sie.

62 Einführung in die Europäische Ethnologie - Kultur
Verschiedentlich wurde Kritik an Geertz geübt, weil seine „Dichte Beschreibung“ definitorische Unsicherheiten aufweise, ja sogar auf theoretische Konzepte verzichte, weil sie – in philosophisch-hermeneutischer Tradition – zu stark auf das „Einfühlen-Können“ setze. Diese Auffassung ist so nicht zu teilen, denn immerhin ist die philo-sophisch-hermeneutische Tradition kein theoriefreies Gedankenge-bäude und zudem ein wichtiger Strang qualitativer Sozialforschung. Dennoch kann zumindest angemerkt werden, dass die Betrachtung der politischen und ökonomischen Verhältnisse bei Geertz etwas unterbelichtet bleibt und eher implizit als explizit zum Ausdruck gelangt. Zudem scheint er – in klassischer ethnologischer Tradition – manch-mal untergründig noch von homogenen kulturellen Einheiten auszu-gehen.

63 Einführung in die Europäische Ethnologie - Kulturanalyse
Nach der bisherigen Diskussion des Kulturbegriffs soll nunmehr die Kulturanalyse als eine spezifische Form volkskundlich-kulturwissenschaftlicher Forschung thematisiert werden. Für eine Kulturanalyse fordert Rolf Lindner keine Eingrenzung in ein enges disziplinäres Korsett, sondern fordert ein „Unternehmen, das sich, um der Sache willen, um disziplinäre Grenzen nicht schert“. Kulturelle Phänomene nicht für sich allein erklärt werden, sondern immer nur in ihren jeweiligen wechselseitigen Verhältnissen. Die Arbeiterkultur, die für einige Zeit ein spezifisches und wichtiges Feld der Volkskunde war, kann immer nur in Bezug auf die tonangebende bürgerliche Kultur begriffen werden, was in den Formen der Aneignung, der Neutralisierung und der Abweisung dominanter Verkehrsformen deutlich wird. Kulturanalyse erfordert daher ein Denken in Relationen, weil von der Grundannahme ausgegangen wird, dass der Sinngehalt kultureller Phänomene nur durch die Untersuchung des Beziehungsgeflechts zu entschlüsseln ist, dem diese Phänomene ihre spezifische Gestalt verdanken.

64 Einführung in die Europäische Ethnologie - Kulturanalyse
Es entspricht einer Logik aller Kulturwissenschaften, nicht vor allem danach zu fragen, was Menschen tun, sondern wie sie das tun, was immer sie tun. Der Philosoph Ernst Cassirer, eine der in der NS-Zeit emigrierten wichtigen deutsch-jüdischen Geistesgrößen, hat einen Feldbegriff entworfen, der ein Relationsbegriff ist – ein Inbegriff von Kraftlinien. Dies hat unter anderem den französischen Soziologen und Ethnologen Pierre Bourdieu beeinflusst, der ebenfalls ein prominenter Feldtheoretiker ist. Auch Bourdieu stellte fest, dass in Feldbegriffen denken relational denken heißt. Dies lässt sich etwa auch in der Wissenschaftsforschung anwenden, wo es zwischen verschiedenen Feldern – wie bei Magnetfeldern – zu Anziehungs- und Abstoßungsprozessen kommen kann. Deshalb müssten die jeweiligen Konstellationen von Feldern zu einander bzw. auch von Disziplinen zu einander berücksichtigt werden.

65 Einführung in die Europäische Ethnologie - Kulturanalyse
Dieses Denken in Konstellationen, in Nachbarn, Konkurrenten und Vorbildern ist aber über die Wissenschaftsforschung hinaus als heuristisches Mittel fruchtbar. Um dies zu verdeutlichen bringt Rolf Lindner ein Beispiel, und zwar die Festivalisierung bzw. Karnevalisierung der Berliner Stadtpolitik. Love Parade, Christopher Street Day und Karneval der Kulturen können in ihrer Entwicklung nur im Zusammenhang mit den anderen verstanden werden. Der Berliner Karneval der Kulturen als multikulturelles Spektakel etwa gewinnt sein besonderes Profil nur in Abgrenzung zur Love Parade, aber auch zum gewöhnlichen Karneval. Das beantwortet allerdings nicht, warum dies in Berlin und nicht etwa in München stattfindet. Der Hauptstadtstatus und der damit verbundene Symbolcharakter taugt als Erklärung insofern nicht, als allein zwei der Paraden noch aus West-Berliner Zeit stammen. Auch die Überlegung, dass diese Ereignisse bewusst als Teil der neuen symbolischen Ökonomie der Städte geschaffen worden sind, trifft nicht zu.

66 Einführung in die Europäische Ethnologie - Kulturanalyse
Von besonderem Belang scheint hingegen die Tatsache zu sein, dass sich die ‚Berliner Paraden’ allesamt einem alternativ/subkulturellen Milieu verdanken. Das alte (West)Berlin als subkultureller Zufluchtsort bildete, so kann als Hypothese formuliert werden, den Nährboden für die neuen kulturellen (Re)Präsentationsformen. Häufig wird bei heutigen Darstellungen so getan, als sei es einfach eine freiwillige Entscheidung, wie etwa Städte kulturelle Phänomene generieren, dabei wird die Frage nach den Wahlmöglichkeiten überspielt. „Eine Stadt ist kein neutraler, beliebig zu füllender Behälter, sondern ein von Geschichte durchtränkter, kulturell codierter Raum. Als ein solcher ist er nicht nur ein definierter, sondern auch ein definierender Raum, der über Möglichkeiten und Grenzen dessen mit entscheidet, was in ihm stattfinden oder was in ihn projiziert werden kann.“ Kulturanalyse beinhaltet ein komplexes Vorgehen, was immer bedeutet, konkrete Phänomene wie etwa die genannten Paraden mit unterschiedlichen anderen Formen von Paraden zusammen zu denken, um eine kulturelle Spezifik herauszuarbeiten.

67 Einführung in die Europäische Ethnologie - Kulturanalyse
Um auf den vorher eingeführten Begriff des Feldes zurück zu kommen, lautet die Aufgabe feldübergreifende Effekte zu betrachten. Dazu gehört auch der Versuch, scheinbar Unmögliches zusammen zu denken. Rolf Lindner meint, etwa den Zuhälter als Verkäufer zu begreifen und den Feldforscher als eine Art Detektiv –, weil man dadurch nicht nur die Unterschiede, sondern auch die Gemeinsamkeiten erkennen kann. Es bedarf des intellektuellen Verständnisses, dass ein Phänomen, so unwahrscheinlich es auf den ersten Blick ist, mit anderen Phänomenen zusammenhängt. Hans Ulrich Gumbrecht hat dies in einem historischen Versuch für das Jahr 1926 unternommen und sein Vorgehen ein „Experiment in historischer Gleichzeitigkeit“ genannt. Gumbrecht stellt damit im Grunde einfach die Frage, wie man nach dem Ende der „großen Erzählungen“ und dem Verblassen der großen geisteswissenschaftlichen Theoriegebäude überhaupt noch Geschichte „lehren“ kann – und suggeriert damit, dass die klassischen Antworten obsolet oder fadenscheinig geworden sind.

68 Einführung in die Europäische Ethnologie - Kulturanalyse
Wenn sich also die großen Kausalitätsgebäude zunehmend als „de-konstruiert“ erweisen, wie kann man dann noch (Kultur-) Geschichte schreiben? Seine Antwort ist verblüffend einfach: Kehren wir zurück zu den Quellen, zu den sinnlichen Qualitäten, zur konkreten Lebenswelt der Vergangenheit, schaffen wir den Eindruck, in der Vergangenheit „zu sein“, versuchen wir, die Vergangenheit im wahrsten Sinne des Wor-tes zu „re-präsentieren“. Gumbrecht weiß natürlich, dass dies gar nicht gehen kann, aber er versucht ein interessantes Experiment: Er collagiert eine Fülle dis-kursiver Quellen wie Romane, Gedichte, Feuilletons, Reiseberichte, Zeitdiagnosen, Autobiographien, Drehbücher, Essays, Reportagen, aber auch Werbe- und Todesanzeigen zu einer Art „Zeit-Bild“, in dem gemeinsame Strukturmuster („Dispositive“) und grundlegende „Codes“ (im Sinne von immer wiederkehrenden Bedeutungszusam-menhängen) sichtbar werden. In über 51 Einträgen widmet sich Gumbrecht diesen Dispositiven und binären Codes.

69 Einführung in die Europäische Ethnologie - Kulturanalyse
Einige Einträge bei den Dispositiven lauten z.B.: „Amerikaner in Pa-ris“, „Bergsteigen“, „Fahrstuhl“, „Ausdauer“, „Streik“, „Bars“, „Fließ-band“, „Mumien“, „Uhren“ oder auch „Völkerbund“, die wie in einem Lexikon in Querbezügen immer wieder aufeinander verweisen. Bei den binären Codes gibt es Einträge wie Authentizität versus Künstlichkeit, männlich versus weiblich, Zentrum versus Peripherie, Stille versus Lärm, Gegenwart versus Vergangenheit. Die Pointe dabei ist die Heterogenität der Quellenbezüge, deren ein-zige Gemeinsamkeit darin besteht, dass sie aus dem weltpolitisch eher „unbedeutenden“ Jahr 1926 stammen, um den Blick nicht zu sehr auf gewohnte Perspektiven zu verengen. Diese Heterogenität soll irritieren und gewohnte Denkschemata aufbrechen, um die chaotische „Gleichzeitigkeit“ des zeitgenössi-schen Erlebens wieder nachvollziehbar zu machen. Es gelingt ihm durch dieses Verfahren, die „Paradoxien“ des „Zeit-geists“ freizulegen: So verweisen seine Quellen immer wieder auf ei-nen „Kult der Oberfläche“ (z.B. bei den Dispositiven Pomade, Revue, Reporter, Film), andererseits aber auch auf einen Hunger nach „Authentizität“ und „Echtheit“ in einer immer stärker „vermittelten“ Wirklichkeit (z.B. bei Jazz, Bergsteigen, Boxen, Stierkampf).

70 Einführung in die Europäische Ethnologie - Kulturanalyse
Ähnlich „paradox„ erscheint der Kontrast zwischen dem semantischen Grundmuster der „Beschleunigung“ auf der einen Seite und dem der „Ewigkeit“ bzw. „Dauer“ andererseits. Durch sein gewissermaßen „ironisierendes“ Verfahren gelingt es Gumbrecht, die Auflösung traditioneller Sinngewissheiten als das durchgängige Grundgefühl der 1920er Jahre plastisch zu veranschaulichen. Gumbrechts Buch regt zu einer Vielzahl von weiterführenden Überlegungen an, und gerade die willkürliche Engführung der Untersuchung auf ein Jahr hat zu einer ungemein dichten Beschrei-bung der Lebenswelt geführt. Völlig neu sind all diese Beobachtungen und Thesen naturgemäß nicht, aber man hat das selten so „paradox“ verdichtet zu lesen bekommen. Besonders überzeugend sind dabei die vielfältigen Querbezüge zwischen Alltagskultur und medial-diskursvier Repräsentation, die die Einseitigkeiten der „Alltagsgeschichte“ wie auch der Ideengeschichte kunstvoll hinter sich lassen.

71 Einführung in die Europäische Ethnologie - Kulturanalyse
„Medienereignisse“ werden auf den verschiedensten Ebenen von der intellektuellen Spekulation bis zur handfesten Vermarktung entfaltet: So zeigt Gumbrecht beispielsweise, wie die spektakuläre Ausgra-bung der Mumie Tutenchamuns nicht nur zu vielfältigen Spekula-tionen über vorchristliche Kulturen, sondern auch zu einer regel-rechten Welle der Kleidermode mit Tutenchamun-Motiven führte. Und ähnliches galt für den Kult um Josephine Baker, der nicht nur die theatralischen Phantasien von Intellektuellen wie Max Reinhardt entzündete, sondern sich auch in hohen Verkaufszahlen von Pomade, Platten und Puppen niederschlug. Gumbrechts Experiment in historischer Gleichzeitigkeit kann etwa dazu führen, das wiederholte Vorkommen von Topoi empirisch fest-gestellt werden und auf diese Weise richtungsweisende Themen einer Zeit oder Epoche erkannt werden. Lindner meint, wir können diese maßgeblichen Themen auch als „kulturelle Themen“ bezeichnen, die einer bestimmten Zeit Kontur verleihen. Dabei darf man aber nicht der Versuchung erliegen, ein zur Betrachtung stehendes Phänomen nur als typisch für eine Zeit zu betrachten und es unmittelbar aus den Zeitumständen abzuleiten, sondern es muss als auf verwickelte Weise in die Zeit verstrickt gesehen werden.

72 Einführung in die Europäische Ethnologie - Kulturanalyse
Daher stehen im Mittelpunkt der Kulturanalyse kulturelle Konstellati-onen, bei denen soziale, kulturelle und biographische Komponenten auf eine zeitspezifische Weise zusammen treffen. Diese Konstellatio-nen gilt es sichtbar zu machen und ihre Logik nachzuzeichnen. Kulturanalyse ist also eine Feld-Analyse bei der kulturelle Komplexe untersucht werden. Feld-Analyse ist dabei ein methodologisches Prinzip, das auch auf den ersten Blick unkonventionelle Wege geht. Gumbrecht hat für sein vorher vorgestelltes Buch über 1926 etwa nicht nur alte Zeitungen und Bücher durchgesehen, was ja ein übli-ches Vorgehen ist. Er hat sich ebenfalls die zeitgenössischen Jazz-produktionen angehört, die Stummfilme gesehen, Sportarten näher betrachtet usw. Kulturanalyse bedeutet in einem gewissen Sinn also auch Hingabe. Wir müssen uns in einen Gegenstand „hineinbegeben“ und das Thema und den Gegenstand, dem wir uns widmen, auf Zeit leben. Volkskundlich-kulturwissenschaftliche Kulturanalyse im umfassen-den Sinn bedeutet, seine Sinne völlig zu öffnen. Der Forscher muss sehen, hören, riechen, schmecken und fühlen. Er oder sie muss ständig auf der Fährte sein, Quellen aufspüren, an nichts anderes als an seinen Gegenstand denken, um ihn „begreifen“ zu können.

73 Einführung in die Europäische Ethnologie - Kulturanalyse
Nach Lindner muss der Forscher „sich heranpirschen an seinen Ge-genstand, ihn umkreisen, ihn durchdringen, ihm auf verquere Weise begegnen, ihm zuweilen auch die kalte Schulter zeigen, um aus seinem Gegenteil, dem Antipoden, neue Anregungen zu gewinnen. Er wird dem Gegenstand, wenn er sich diesem in totaler Weise überlässt, an den unmöglichsten Stellen begegnen: auf dem Floh-markt, im Kino, beim Spiel; in Kleinanzeigen, auf Comicseiten, in Vi-deoclips; beim Musikhören, Prospekte lesen, Zeitschriften blättern.“ Nur wenn wir dies beherzigen, ist auch der Weg für den so genannten Zufallstreffer geebnet, für die Erfahrung der Serendipity. In den Kultur- und Sozialwissenschaften bedeutet Serendipity die Fähigkeit, etwas zu finden, was man nicht gesucht hat, oder anders gesagt, eine zufällige Beobachtung von etwas, das gar nicht das ur-sprüngliche Ziel einer Untersuchung war, das sich bei einer genauen Analyse aber als neue und überraschende Entdeckung erweist. Aber auch wenn sicherlich viele wichtige Entdeckungen auf diese Weise gemacht wurden (Amerika, Penicillin, Röntgenstrahlen), reicht das Warten auf den Zufall nicht aus. Vielmehr ist es nötig, sich für Neues zu öffnen, einen gewissen Forschergeist und Entdecker-freude zu entwickeln.

74 Einführung in die Europäische Ethnologie – Dresden
Rolf Lindner/Johannes Moser (Hg.): „Dresden. Ethnographische Erkundungen einer Residenzstadt“. Leipzig: LUV 2006. Wir haben mit einem ganzen Set von historischen und gegenwarts-bezogenen Methoden gearbeitet und eine Fülle von Quellen durch-forstet: Archivstudien, teilnehmende Beobachtung und „reine“ Beob-achtung, Fragebogenerhebung, Interviews, Expertengespräche und Wahrnehmungsspaziergänge zählten ebenso dazu wie die Lektüre von Zeitschriften, Romanen, Marketingschriften, Werbungen, Annon-cen, wissenschaftlichen Studien, Autobiografien, Werksbesichtigun-gen, Ausstellungsbesuche, das Sichten von Filmen und Filmmaterial. Es gibt zwei gängige, stereotype Charakterisierungen oder Klischees von Dresden, die sich in aktuellen Stadt- und Reiseführern finden lassen, die eine ist die Bezeichnung von Dresden als „Elbflorenz“, die andere ist die Rede von Dresden als „Residenzstadt“. Mit beiden Charakterisierungen wird eine große Vergangenheit der Stadt als noch oder wieder erfahrbar behauptet, eine Vergangenheit vor allem der höfischen Pracht. Klischees und Stereotypen sind geläufige Repräsentationen der Besonderheit und Differenz (in unserem Fall: einer Stadt), die aus der Wiederholung und Variation eines Grundthemas oder Topos resultieren.

75 Einführung in die Europäische Ethnologie – Dresden
Daraus ergibt sich eine „kumulative Textur“, wie der Soziologe Ge-rald D. Suttles den Prozess der sich aufschichtenden Textbausteine städtischer Repräsentation bezeichnet hat, wenn wir in unserem Projekt Bezug auf das Bild Dresdens als „Residenzstadt“ nehmen. Damit sollte die Frage aufgeworfen werden, ob sich die Geschichte Dresdens als Residenzstadt, verstanden als ein Phänomen der longue durée, nicht tatsächlich in den Habitus der Stadt und ihrer Bewohner im wahrsten Sinne des Wortes eingegraben hat. Es geht also um eine Anthropologie der Stadt, die es sich zur Aufga-be macht, die jeweilige Individualität der in Frage stehenden Städte sichtbar zu machen. Bei früheren Stadtforschungen wurde meist versucht, die ethnologi-schen Perspektiven und Forschungswerkzeuge in der Stadt zur Anwendung zu bringen, ohne den städtischen Raum selbst als Be-dingungsrahmen für die untersuchten Artikulations- und Handlungs-formen zu berücksichtigen. Im Dresden-Projekt sollte nicht nur das Spezifische am Gebilde ‚Stadt’, sondern auch die spezifische Stadt, in der die verschiedenen Milieus und Szenen sozusagen ‚zu Hause’ sind, die sonst untersucht werden, in den Blick genommen werden. Es geht also um die spezifische Stadt, um das, was Urbanisten wie Dieter Hoffmann-Axthelm, als ‚Stadtindividuum’ bezeichnen.

76 Einführung in die Europäische Ethnologie – Dresden
Die Stadt als Ganzes bildete das eigentliche Untersuchungsobjekt. Unser Ausgangspunkt war das Klischee von der fortdauernden Resi-denzstadt, und zwar weil wir, gewissermaßen als Arbeitshypothese, der Auffassung waren, dass der ehemalige Status der Residenzstadt bis heute tatsächlich wirkmächtig geblieben ist. Was bedeutet aber eigentlich „Residenzstadt“? Ein guter Ausgangs-punkt ist nach wie vor die Stadttypologie von Max Weber, der die Großkategorien „Konsumentenstadt“, „Produzentenstadt“ und „Händ-lerstadt“ beziehungsweise „Handelsstadt“ unterschieden hat. Dabei handelt es sich um eine Kategorisierung nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten, die Folgen für den Charakter der Stadt hat. Eine Produzentenstadt ist für Weber eine solche, die eben von Fabri-ken und produzierendem Gewerbe abhängig ist – heute würden wir sagen Industriestadt. Eine Händlerstadt ist demgegenüber eine solche, „bei welcher die Kaufkraft ihrer Großkonsumenten darauf beruht, dass sie fremde oder heimische Produkte handeln. Der dritte Typ nun ist die Konsumentenstadt, bei der die Erwerbs-chancen der Gewerbetreibenden und Händler von der Ansässigkeit von Großkonsumenten an Ort und Stelle abhängig ist.

77 Einführung in die Europäische Ethnologie – Dresden
Der Sozialanthropologe Ulf Hannerz hat die Webersche Typologie gewissermaßen als Paraphrase aufgegriffen, indem er Courttown (also Fürstenstadt), Commercetown (also Handelsstadt) und Coketown (also Industriestadt) als die drei wesentlichen historischen Formen des Urbanismus unterschied. Mit dieser Typologie ist auf synchroner Betrachtungsebene ein er-ster, noch recht grober Verweis auf den jeweilig stadtprägenden Sektor der Ökonomie (Luxuskonsum, Handel, Industrie) gegeben. Diese ökonomische Perspektive muss selbstverständlich in Fallanalysen differenziert und konkretisiert werden. Es macht näm-lich einen grundlegenden Unterschied aus, ob in Commercetown mit Geld oder Ideen gehandelt wird oder ob Coketown durch die alten Industrien oder durch die neuen Technologien gekennzeichnet ist. Der stadtprägende Sektor der Ökonomie schlägt sich als prägender nicht nur in entsprechenden gewerblichen und verwaltungstechni-schen Einrichtungen nieder, sondern auch in Konsum-, Kultur- und Freizeiteinrichtungen, die den Bedürfnissen, Interessen und Artikula-tionsformen der mit den Einrichtungen verbundenen Akteure ent-sprechen.

78 Einführung in die Europäische Ethnologie – Dresden
Eine Stadt, deren Großkonsumenten von Industriearbeitern gestellt werden, weist ein anderes Ambiente, eine andere Atmosphäre, eine andere Geschmackslandschaft auf als eine Stadt, die durch ein „Sta-tusverbraucherethos“ gekennzeichnet ist, wie Elias eine Gesellschaft bezeichnet hat, die um den Verbrauch von Gütern, und zwar der lu-xuriösen Art, aus einem Repräsentationszwang heraus, zentriert ist. Unschwer lassen sich dafür repräsentative Orte finden: was für die eine Stadt der Tanzschuppen (dance hall) sein mag, ist für die andere der Ballsaal (ball room). In Dresden hat der Aufwand, der am kurfürstlichen Hofe betrieben wurde, der Stadt eine bestimmte Färbung gegeben. Besonders wichtig ist für uns in diesem Zusammenhang, dass Elemente des höfischen Lebens in die Stadtbevölkerung hineingetra-gen wurden. Das liegt nicht nur daran, dass Dresdens Einwohner an den rituellen Feierlichkeiten teil hatten (weil sie ja, aus Repräsenta-tionszwang, nicht zuletzt auch für sie gedacht waren). Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts gehörten überdies rund ein Zehntel der Dresdner Bevölkerung zu den Familien der unmittelba-ren höfischen Funktionsträger, was ein unmittelbares (Mit-)Erleben des höfischen Lebens einschloss.

79 Einführung in die Europäische Ethnologie – Dresden
Eine Residenzstadt zu sein, bedeutet zunächst einmal, dass sich das ganze wirtschaftliche und soziale Leben der Stadt um die Ansprüche und Kapricen des Hofes dreht, Ansprüche und Kapricen, die sich nicht zuletzt in der Repräsentationskultur und im Luxuskonsum artikulieren. Wenn wir uns die Entwicklung des Dresdner Handwerks und Gewer-bes ansehen, so kann von einer höfisch geprägten Eigenart des Dresdner Handwerks- und Wirtschaftslebens gesprochen werden, in der das Kunsthandwerk und die Bereitstellung von Genussmitteln eine besondere Bedeutung hatten. Ebenso wie die Residenz die Stadt prägt und wie es repräsentative Orte gibt, existieren typische Berufe. Gehen wir von einer spezifischen Prägung von Städten aus, so kor-respondieren damit eben auch typische Berufe oder Berufskulturen. Werner Schiffauer hat den Städten vier Idealtypen von Berufs-kulturen zugeordnet, weil durch den jeweiligen Städtetyp eine jeweils dominante Gruppe definiert werde. Für eine Industriestadt ist demnach die Berufskultur des Kollektivs typisch, die sich durch relative Homogenität auszeichne.

80 Einführung in die Europäische Ethnologie – Dresden
In einer Handelsstadt dominiere eine individualistische Berufskultur, die aus der Konkurrenzsituation der handelnden Akteure resultiere. Es herrsche weniger Anpassung als in anderen Städtetypen und die Kunst der Selbstinszenierung sei wichtiger als in anderen Berufs-kulturen. Für Dresden als Residenz- und Verwaltungsstadt trifft Schiffauers Beschreibung einer hierarchischen Berufskultur zu, die eine Identifikation mit dem Ganzen aufweist – „sei es (in der liberalen Version) mit dem Gemeinwohl oder (in der konservativen Version) mit der Würde des Staates“. Wollen wir die typischen Berufe in Dresden ins Auge fassen, so sind das die Beamten, der Adel, das Militär und die politisch einfluss-reichen Hausbesitzer. Der Adel und das Militär spielen heute keine Rolle mehr, aber der Charakter Dresdens als Residenzstadt schlägt sich auch noch im Leben der Stadt nach der Industrialisierung und sogar nach dem Staatssozialismus nieder. Wir sind im Dresden-Projekt von der kulturanalytischen Überlegung ausgegangen, dass sich die Besonderheiten einer Stadt in einer cha-rakteristischen Geschmackslandschaft verdichten, die in einem nicht unerheblichen Ausmaß die Atmosphäre der Stadt bestimmt.

81 Einführung in die Europäische Ethnologie – Dresden
Geschmackslandschaften gewinnen ihr charakteristisches Gepräge durch das Zusammenspiel der sie konstituierenden Elemente, die in Wechselwirkung zueinander stehen, auseinander hervorgehen und sich aufeinander beziehen. Dies lässt sich im wirtschaftlichen Bereich verfolgen, wofür die Wirt-schaftswissenschaften Begriffe wie „Pfadabhängikeit“, Synergieeffekt und ähnliches entwickelt hat. Die Genussmittelindustrie hat etwa zu einem Bild beigetragen, das auch andere Produkte den Charakter des Genusses erhielten. Was beim Konzept der Geschmackslandschaft betont wird, ist die Vorstellung einer prästabilisierten Harmonie von Geschmacksorien-tierungen, ästhetischen Präferenzen und stilistischen Konventionen, bei der das eine zum anderen passt, das eine mit dem anderen auf angenehme Weise übereinstimmt, mit ihm ‚korrespondiert’, durchaus im doppelten Wortsinne. In der Dresdenspezifischen Malerei wird dies ebenso deutlich wie in der Literatur.

82 Einführung in die Europäische Ethnologie – Dresden
In einem Gespräch mit dem aus Dresden stammenden Lyriker Durs Grünbein fragt Renatus Deckert, ob „diese lokale Mentalität, dazu der sächsische Dialekt und die Weichheit der Dresdner Topogra-phie“, ob also „diese äußeren Bedingungen einen speziellen Ton im Schreiben“ formen, worauf Grünbein antwortet: „Untergründig ist das gewiss so. Noch deutlicher sichtbar als in der Dichtung wird das in der Malerei. [...] Diese frühe Prägung ist offenbar etwas, was man kaum abstreifen kann. Und umso vehementer man es abzustreifen versucht, desto deutlicher kehrt es wieder. Es ist der genetische Co-de des Künstlers, der mit seiner Ursprungslandschaft zusammen-hängt, der ihm aber oft unbekannt ist.“ Dresden bildete eine Geschmackslandschaft, die von Verfeine-rungen in Handwerk, Gewerbe und in den Künsten, durchzogen war, weshalb das Habitus-Konzept von Pierre Bourdieu auch in der Stadtanalyse mit Gewinn Anwendung finden kann. Mit dem Konzept Habitus ist immer ein Hinweis darauf verbunden, dass unser Handeln nicht voraussetzungslos ist. Stets ist damit et-was biographisch Erworbenes und geschichtlich Gewordenes ge-meint, das das Handeln insofern leitet beziehungsweise kanalisiert, als es etwas Bestimmtes aufgrund von Geschmack, Neigungen und Vorlieben, kurz: „Dispositionen“ nahe legt.

83 Einführung in die Europäische Ethnologie – Dresden
Übertragbar wird der Habitus-Begriff freilich nur dann, wenn wir vor-aussetzen , dass auch Städte Individuen sind, mit einer eigenen Bio-graphie (sprich: Geschichte), mit einer eigenen Sozialisation und mit ihr eigenen Mustern der Lebensführung. Der Nutzen des Habitus-Konzepts scheint vor allen Dingen darin zu bestehen, dass man mit ihm jene Konstanz der Dispositionen, des Geschmacks, der Präferenzen erklären kann, die sonst so viel Kopf-zerbrechen bereitet. Nirgendwo wird die Konstanz, ja die Hartnäckigkeit deutlicher als in den Schwierigkeiten, die der Versuch bereitet, das Image einer Stadt oder besser: ihre verinnerlichten Muster zu verändern. Verstehen wir den bewohnten Raum in Anlehnung an Bourdieu als sozial konstruiert und markiert, das heißt mit „Eigenschaften“ verse-hen, dann kann als eine zentrale Aufgabe der Stadtforschung die Untersuchung der bestimmten Ordnung und Anordnung von Eigen-schaften als Spezifikum des bewohnten Raums angesehen werden. In einem kleinen „Spiel mit Bourdieu“ haben wir bei 515 Studieren-den der Europäischen Ethnologie nach den „Eigenschaften“ von acht deutschen Städten, nämlich Berlin, Dresden, Essen, Frankfurt a.M., Hamburg, Leipzig, München und Stuttgart gefragt.

84 Einführung in die Europäische Ethnologie – Dresden
Als „Eigenschaften“ wurden zur Auswahl gestellt: dynamisch, abweisend, konservativ, ordinär, freundlich, bieder, multikulturell, schön, aggressiv, alternativ, gemütlich und fleißig Diesem Spiel liegt das so genannte Eigenschaftslistenverfahren (ad-jective selection technique) zugrunde, das die Psychologen Daniel Katz und Kenneth W. Braly zur Messung von Stereotypen entwickelt haben. Der Versuch zeigt, dass sich gerade in der Konfiguration von Eigenschaftszuschreibungen sowohl in Bezug auf eine Stadt als auch im Städtevergleich etwas über diese Stadt „verrät“, so wie Stereotypen generell etwas verraten. Insgesamt fällt bei unserer Befragung auf, dass Dresden eine Stadt ist, von der ein relativ klares Bild in den Vorstellungen der Befragten verankert ist. Dresden erreicht sieben „erste Plätze“ bei den positiven und negativen Antworten zu den abgefragten Eigenschaften. Damit rangiert es noch vor Berlin, das bei sechs Eigenschaften am häufigsten genannt wird. Weit dahinter folgen Essen, Frankfurt am Main und München, die bei jeweils drei Eigenschaften die Spitzenpositionen einnehmen.

85 Einführung in die Europäische Ethnologie – Dresden
Aussagekräftig wird dieses Spiel mit den Platzierungen jedoch erst, wenn wir die Spitzenplätze bündeln und sehen, ob sich daraus relativ kohärente Zuschreibungen an Orte ablesen lassen. Dresden gilt als schön, freundlich und gemütlich sowie als nicht ordi-när, nicht aggressiv, nicht multikulturell. München zum Beispiel als konservativ, bieder und nicht alternativ. Berlin wiederum gilt als dynamisch, multikulturell und alternativ, als nicht konservativ, nicht bieder und nicht fleißig. Bei dieser „Clusterung“ der Eigenschaften wird viel deutlicher, als wir es vermutet hätten, über welch klar ausgeprägte Images manche Städte verfügen. Auf der einen Seite das schöne Dresden oder Mün-chen mit den weiteren zu einer Residenzstadt passenden Katego-rien, auf der anderen Seite die dynamische Metropole Berlin, mit der ebenfalls die entsprechenden Eigenschaften korrespondieren. Werfen wir noch einen Blick auf die anderen Städte mit Mehrfach-nennungen, so setzt sich diese Beobachtung fort. Essen wird als Ruhrgebietsstadt wahrgenommen und als abweisend, ordinär und nicht schön eingeschätzt. Frankfurt am Main hat, wenn wir es so bezeichnen wollen, ein ziemlich negatives Image, denn es gilt als aggressiv, nicht freundlich und nicht gemütlich.

86 Einführung in die Europäische Ethnologie – Alltag
Kultur und Alltag sind zentrale Perspektiven, mit denen sich die Be-ziehungen zwischen Individuen und Gesellschaft sinnvoll erfassen lassen. Alltag und Alltagskultur sind in der Volkskunde ganz selbstverständ-liche – sozusagen alltägliche – Begriffe, so dass sie gar nicht mehr genauer bestimmt werden. Auch für andere Disziplinen wie Geschichte und Soziologie ist der Alltagsbegriff bedeutend. In der Volkskunde gibt es zwar auch schon vor den 1970er Jahren Hinweise auf die Beschäftigung mit dem Alltag, so kann man – wie fast immer – bei Wilhelm Heinrich Riehl fündig werden, der über „all-tägliches Daseyn“ schrieb. Populär wurde der Begriff seit den 1970er Jahren, aber es gibt wie beim Kulturbegriff eine Fülle von Definitionen. Norbert Elias hat 1978 in einem kurzen Überblick aufgezeigt, welche verschiedenen, sich teilweise überschneidenden Bedeutungen dem Begriff innewohnen. Und er hat deshalb auch vor der inflationären Verwendung des Begriffs gewarnt.

87 Einführung in die Europäische Ethnologie – Alltag
Alltag unterscheidet sich nach Elias Definition vom Festtag, es um-fasst den Familienalltag und die private Sphäre ebenso wie den öffentlichen Erwerbsarbeitsalltag. Unter Alltag wird auch das Repetitive verstanden, die sich wiederholenden, routinisierten Handlungen, die dem Besonderen und Einmaligen entgegenstehen. Oft wird unter Alltag auch das Leben der „breiten Masse“ verstanden im Gegensatz etwa zum Leben der Prominenz. Wir müssen uns zudem vergegenwärtigen, dass die Betrachtung des Alltags auch eine Frage der Perspektive ist: Für den einzelnen Menschen sind Geburt, Krankheit, Hochzeit oder Tod ganz besondere Ereignisse im Leben, aus der Wahrnehmung der Gesamtgesellschaft und aus einer Makroperspektive stellen sie nichts anderes dar als den Alltag von Menschen. Schließlich ist der Alltag durch eine spezifische Wahrnehmungsform gekennzeichnet: durch ein spontanes und unreflektiertes Erleben und durch besondere erfahrungsbezogene und ritualisierte Interpre-tations- und Verhaltensmuster.

88 Einführung in die Europäische Ethnologie – Alltag
Die Traditionen der modernen Alltagsforschung reichen zurück bis in die 1930er Jahre, als der Philosoph Edmund Husserl seine Theorie der Lebenswelt entwarf. Diese Lebenswelt nannte er auch Alltags-welt oder beschränkte Umwelt. Diese Theorie der Lebenswelt beschreibt die konkrete anschauliche Welt, in die der Mensch hineingeboren wird. In dieser Welt lebt und kommuniziert man mit anderen Menschen. Und diese Welt ist für das Individuum wie für alle anderen darin lebenden Menschen die unhinterfragbare Wirklichkeit. Alltag ist demnach das selbstverständlich Hingenommene, in dem Menschen sich und andere fühlend, denkend und handelnd erleben. Aus dieser alltäglichen „Seinsgestaltung“, wie Husserl das genannt hat, ziehen Menschen auch ihre Seinsgewissheit. Die gemeinsame Praxis verleiht nach Husserl dem Alltag eine intersubjektive „Geltungswirklichkeit“. Für die moderne Alltagstheorie sind dann die Ausführungen von Alf-red Schütz aus den 1950er Jahren zentral geworden, insbesondere seine zentralen Aussagen in dem mit seinem Schüler Thomas Luckmann verfassten Buch „Strukturen der Lebenswelt“.

89 Einführung in die Europäische Ethnologie – Alltag
Wesentliche Elemente sind auch in dem bis heute einflussreichen Werk „Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“ von Peter Berger und Thomas Luckmann enthalten. Schütz meinte, die alltägliche Lebenswelt sei jener Wirklichkeits-bereich, an dem der Mensch in unausweichlicher, regelmäßiger Wie-derkehr teilnimmt. In die alltägliche Lebenswelt kann der Mensch eingreifen und er kann sie verändern, indem er in ihr wirkt. Gleich-zeitig wird er in diesem Bereich in seinen freien Handlungsmöglich-keiten durch andere eingeschränkt. Nur in der alltäglichen Lebenswelt kann sich der Mensch mit seinen Mitmenschen verständigen und mit ihnen zusammenwirken. Nur in ihr kann sich eine gemeinsame kommunikative Umwelt konstituieren. Unter alltäglicher Lebenswelt – so Schütz und Luckmann – soll jener Wirklichkeitsbereich verstanden werden, den der wache und normale Erwachsene in der Einstellung des gesunden Menschenverstandes als schlicht gegeben vorfindet. Mit schlicht gegeben bezeichnen wir alles, was wir als fraglos erleben, jeden Sachverhalt, der uns bis auf weiteres unproblematisch erscheint.

90 Einführung in die Europäische Ethnologie – Alltag
Schütz zählt auch die „fraglosen“ Gegebenheiten der alltäglichen Le- benswelt auf, die als Totalität für das handelnde Subjekt vorhanden sind: die körperliche Existenz von anderen Menschen dass diese Körper mit Bewusstsein ausgestattet sind, das dem mei- nen prinzipiell ähnlich ist; dass die Außenweltdinge in meiner Umwelt und in der meiner Mit- menschen für uns die gleichen sind und grundsätzlich die gleiche Bedeutung haben; dass ich mit meinen Mitmenschen in Wechselbeziehung und Wech- selwirkung treten kann; dass ich mich – dies folgt aus den vorangegangenen Annahmen – mit ihnen verständigen kann; dass eine gegliederte Sozial- und Kulturwelt als Bezugsraum für mich und meine Mitmenschen historisch vorgegeben ist, und zwar in einer ebenso fraglosen Weise wie die ‚Naturwelt’; dass also die Situation, in der ich mich jeweils befinde, nur zu einem geringen Teil eine rein von mir geschaffene ist.

91 Einführung in die Europäische Ethnologie – Alltag
Die Lebenswelt ist also eine intersubjektive Welt vertrauter Wirklich- keit, in der die einzelnen Menschen als Handelnde gefordert sind. Für diese Lebenspraxis steht den Menschen nach Schütz der kul- turell ererbte und enkulturierte Wissensvorrat zur Verfügung, aber auch die Eigenerfahrung situationaler Problemlösungen. Es dürfte klar geworden sein, dass eine Bedingung des Zusammen- lebens und der Interaktion in diesem Lebens- und Alltagsweltkonzept die Vorstellung der Wechselseitigkeit der Perspektiven ist. Das meint, dass auch der jeweils Andere in der Lage ist, meine Perspektiven zu verstehen; ja mehr noch wird vorausgesetzt, dass die Bedeutungssysteme der miteinander interagierenden Menschen übereinstimmen. Gemeinsame Wissensbestände und Interpreta- tionsverfahren gehören dazu. Um nun die Komplexität des Alltags zu reduzieren und Handlungen zu vereinfachen, bedient sich das praktische Alltagsdenken be- stimmter Routinen – z.B. Festlegungen, was normal ist; oder Typisie- rungen von Situationen und Personen.

92 Einführung in die Europäische Ethnologie – Alltag
Alles, was in diesen Wahrnehmungen stört und fremd ist, wird aus- geblendet oder gar ausgegrenzt, weil es nicht in das vorgefasste Schema passt. Diese Strategien und Klassifikationsmuster haben in der Literatur durchaus unterschiedliche Wahrnehmungen und Wertungen erfah- ren. Den einen erscheint dieser Alltag häufig borniert und blind; die anderen überbetonen den so genannten „Eigensinn“, wie Carola Lipp kritisch anmerkte. Auf jeden Fall meint Alltag in dieser hier vorgestellten wissenssozio- logischen Theorie einen besonderen Typus der Erfahrung, des Han- delns und des Wissens. Eine systematische Weiterentwicklung dieses Konzepts findet sich in der Schule des Symbolischen Interaktionismus und in der so ge- nannten Ethnomethodologie. Das sind – streng genommen soziologische Schulen –, die auf vielfältige Weise auch die Kulturwissenschaften beeinflusst haben. Der symbolische Interaktionismus ist verbunden mit den Namen George Herbert Mead und Herbert Bulmer, im weitesten Sinn auch mit Erving Goffman.

93 Einführung in die Europäische Ethnologie – Alltag
Der symbolische Interaktionismus geht davon aus, dass die gesamte Interaktion zwischen Menschen auf dem Austausch von Symbolen besteht. Wenn wir mit anderen interagieren, so suchen wir ständig nach Anhaltspunkten, die uns sagen, welche Art von Verhalten im betreffenden Kontext richtig ist und wie das zu interpretieren sei, was der andere meint oder beabsichtigt. Der symbolische Interaktionismus lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Details der interpersonellen Interaktion und darauf, wie diese Details verwendet werden, um dem, was gesagt und getan wird, Sinn zu verleihen. Der symbolische Interaktionisus konzentriert sich vor allem auf face- to-face-Interaktionen in den Kontexten des Alltagslebens. Erving Goffman ist mit seinen Arbeiten diesbezüglich besonders prägend geworden. In der Goffmanschen Ausprägung bietet der symbolische Interaktionismus vielerlei Einblicke in die Natur unserer Handlungen im Laufe unseres täglichen sozialen Lebens.

94 Einführung in die Europäische Ethnologie – Alltag
Goffman hat etwa für die Analyse der sozialen Interaktion auf die Begriffe des Theaters zurückgegriffen. So zum Beispiel in seinem Buch „Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag.“ Schon der Begriff der sozialen Rolle, der in den Sozialwissenschaf- ten weit verbreitet ist, stammt aus dem Theatermilieu. Rollen sind sozial definierte Erwartungen, die eine Person, die einen bestimmten Status oder eine bestimmte soziale Position innehat, er- füllt oder zu erfüllen hat. Goffman verwendet ein dramaturgisches Modell, um das soziale Le- ben zu betrachten. So als handle es sich dabei um ein Schauspiel auf einer Bühne – oder auf vielen Bühnen, weil unser Handeln ja von verschiedenen Rollen geprägt ist, die wir zu verschiedenen Zeitpunk- ten einnehmen. Menschen sind sehr sensibel gegenüber dem Bild, das andere von ihnen haben. Daher versuchen sie, diesen Eindruck zu manipulieren, damit andere Menschen in der gewünschten Form reagieren. Obwohl diese Manipulation in berechnender Weise geschehen kann, gehört es üblicherweise zu den Dingen, die wir tun, ohne ihnen besondere Aufmerksamkeit zu schenken.

95 Einführung in die Europäische Ethnologie – Alltag
Eine besondere Unterscheidung trifft Goffman noch mit den Begrif- fen „Vorderbühne“ und „Hinterbühne“. Die „Vorderbühne“ ist jener Bereich der sozialen Kontakte und An- lässe, bei denen formale und stilisierte Rollen gespielt werden. Die Hinterbühne ist jener weniger stark formalisierte Bereich, in dem das Tun auf der Vorderbühne vorbereitet oder begleitet wird. Ein besonders interessantes Buch von Erving Goffman heißt „Stig- ma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität“. Hier zeigt Goffman, dass „normale“ Menschen Personen mit einem Stig- ma (eine Behinderung oder z.B. eine „soziale“ Abweichung) oft äußerst wirksam, wenn auch oft gedankenlos, diskriminieren. Stigmatisierte Personen wissen das und unternehmen dann Versuche, das zu korrigieren. Entweder indem sie die objektive Ba- sis ihres „Fehlers“ beheben, indem sie diesen „Fehler“ zu verstecken suchen oder etwa indem sie zu beweisen suchen, dass sie in Tätigkeitsbereichen bestehen können, von denen andere annehmen, sie könnten das wegen gewisser Einschränkungen nicht erreichen.

96 Einführung in die Europäische Ethnologie – Alltag
Wenn jemand mit einem Stigma versuchen will, andere zu täuschen, bedarf es eines immensen Aufwandes. Was für so genannte „Nor- male“ Routineangelegenheiten sind, kann für einen Diskreditierba- ren, also jemanden der noch nicht durch sein Stigma diskrediert ist, zu einem richtigen Organisationsproblem werden. Das Individuum mit einem geheimen Fehler muss sich demnach der sozialen Situation in der Art eines ständigen Abtastens von Möglich- keiten bewusst sein. Die für andere unkomplizierte Welt ist es für ihn keineswegs. Was für andere trivial ist, wird für den Diskreditierbaren zum Problem. Goffman greift immer auf eindrückliche Beispiele zurück. Sie führen ganz deutlich vor Augen, was in den theoretischen Ausführungen zur Alltags- und Lebenswelt theoretisch bereits ausgesagt wurde. In der Alltagswelt vereinfachen wir, greifen auf Normalitätsvorstellun- gen und Deutungsroutinen zurück, die uns helfen, eine komplexe Umwelt in den Griff zu bekommen, in denen aber auch ein gehöriges Potential an Diskrminierungsmustern steckt. Die Beispiele aus Goffmans Buch verraten gerade dadurch, dass sie stigmatisierte Menschen und ihre Umgangsweisen damit in den Blick nehmen, wie Kommunikation funktioniert.

97 Einführung in die Europäische Ethnologie – Alltag
Gerade hier setzt auch die Ethnomethodologie an. Die Ethnometho- dologie ist die Untersuchung der Ethnomethoden, das sind die von Laien benutzten Methoden. Diese Methoden werden angewandt, um den Sinn dessen, was an- dere Menschen tun, und vor allem dessen, was sie sagen, zu ent- schlüsseln. Wir alle verwenden in der Interaktion mit anderen Menschen Metho- den, um dem Handeln und Reden der anderen einen Sinn abzuge- winnen, wobei wir diesen Methoden üblicherweise keine gesonderte Aufmerksamkeit schenken. Oft können wir einer Situation nur Sinn abgewinnen, weil wir den so- zialen Kontext kennen, der in den Worten selbst nicht in Erscheinung tritt. Selbst die unbedeutendsten Formen des alltäglichen Lebens setzen ein kompliziertes gemeinsames Wissen voraus. Die in der alltäglichen Kommunikation verwendeten Wörter haben keine präzisen Bedeutungen und was wir sagen möchten bzw. das Verständnis des Gesagten wird durch die unausgesprochenen An- nahmen festgelegt, die den verschiedenen Bedeutungen zugrunde liegen.

98 Einführung in die Europäische Ethnologie – Alltag
Wir haben also bei unserer tagtäglichen Kommunikation „Hinter- grunderwartungen“ und für diese Hintergrunderwartungen etwa inte- ressiert sich die Ethnomethodologie. Der Soziologe Harold Garfinkel hat durch seine so genannten Kri- senexperimente versucht, Kommunikationsstrukturen und Hinter- grunderwartungen offen zu legen. Das funktioniert etwa in der Form, dass man den Sinn der beiläufigsten Bemerkungen und allgemeiner Kommentare nicht einfach hinnimmt, sondern ihnen nachgeht, um ihren Sinn zu präzisieren. Die Experimente sollen dazu beitragen, die grundlegenden Modi un- seres Zusammenlebens zu verstehen. Die Stabilität und Sinnhaftigkeit unseres täglichen sozialen Lebens hängt vom gemeinsamen Besitz unausgesprochener „kultureller“ An- nahmen darüber ab, was warum gesagt wird. Wären wir nicht in der Lage, diese Annahmen vorauszusetzen, wäre sinnvolle Kommunika- tion unmöglich.

99 Einführung in die Europäische Ethnologie – Alltag
Jeder Frage oder jedem Beitrag zu einer Konversation müsste ein massives Suchverfahren folgen, wie es in Garfinkels Experimenten gezeigt wurde, und die Interaktion würde schlicht zusammenbre- chen. Was also auf den ersten Blick als unwichtige Konventionen der Rede erscheint, stellt sich als fundamental für das Gewebe des sozialen Lebens heraus, weshalb der Verstoß gegen Konventionen eine so ernsthafte Sache ist. Ein anderer Ansatz der Alltagstheorie stellt eine eher gesellschafts- politische Analyse der spätkapitalistischen Massenkonsumgesell- schaften dar und kritisiert die entfremdeten Lebens- und Arbeitsbe- dingungen. Beispielhaft dafür steht Henri Lefèbvres „Kritik des All- tagslebens“, die viele Disziplinen beeinflusst hat. Die Entdeckung des Alltags kann aus dieser Perspektive als das kul- turelle Konstrukt einer „Generation der Entfremdung“ verstanden werden, meinte etwa die andere marxistische Denkerin des Alltags – Agnes Heller.

100 Einführung in die Europäische Ethnologie – Alltag
So argumentierte Utz Jeggle in den „Grundzügen der Volkskunde“ schon 1978, es sei vom Alltag gesprochen worden, als er in die Krise gekommen sei, als das Gewohnte problematisch geworden sei. Der Begriff Alltag war verbunden mit der Kritik an einem segmen- tierten, durch kapitalistische Produktionsverhältnisse geprägten All- tag, der nicht entlang den Bedürfnissen der Menschen organisiert war, sondern dem Dikta spätkapitalistischer Kulturindustrie folgte. Das Thema Alltag war also politisch aufgeladen und hing in der Volkskunde – wie auch in anderen Fächern – mit der Diskussion um fachpolitische Standortbestimmungen zusammen. In der Volkskunde geht die Rezeption des Alltagsbegriffs einher mit der Neubestimmung der Volkskunde gegen Ende der 1960er und zu Beginn der 1970er Jahre. Der Begriff Alltag tauchte programmatisch erstmals bei den Falken- steiner Diskussionen auf, bei denen 1970 über Selbstverständnis, Erkenntnisziel und Aufgaben der Volkskunde gerungen wurde.

101 Einführung in die Europäische Ethnologie – Alltag
Gerhard Heilfurth argumentierte bereits vor Falkenstein mit dem Be- griff Lebenswelt und Ina-Maria Greverus forderte 1971 eine „Wende zur Lebenswelt“, weil sie die Volkskunde geradezu als prädestiniert ansah, die „alltägliche Lebenswelt des europäischen Menschen“ zu erforschen. Greverus legte dann bei ihrer Neuausrichtung des Frankfurter Instituts und dessen Umbenennung in „Kulturanthropologie und Eu- ropäische Ethnologie“ ein klares Bekenntnis zur angelsächsischen Kultur- und Sozialanthropologie ab, deren theoretische Basis ihr ge- eignet erschienen, die Kultur und Alltagswelt in europäischen Gesell- schaften zu untersuchen. In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre setzte sich Greverus mit der kulturkritischen Position der neueren Alltagsdiskussion auseinander und geht – in der Tradition der Kulturkritik – von einer Trennung von Kultur und Alltag aus. Der Alltagsbegriff verweist für sie auf eine „deformierte Umwelt“. Dem hält sie ihren Kulturbegriff entgegen, in dessen Zentrum die Vorstellung einer aktiv vom Menschen gestalteten Lebenswelt steht.

102 Einführung in die Europäische Ethnologie – Alltag
Der Mensch war für sie „Schöpfer und Geschöpf“ der Kultur und sie betonte die „Fähigkeit des Menschen zur aktiven Anpassung, zur Gestaltung und Veränderung der Umwelt wie der eigenen Verhal- tensweisen“. In Tübingen wiederum, wo sich das Fach Volkskunde in Empirische Kulturwissenschaft umbenannt hatte, war die Erforschung des All- tags zunächst von einem politischen Emanzipationsprozess geprägt. Später entwickelte sich daraus eine historisch orientierte Alltags- und Kulturforschung, die – vor allem durch Utz Jeggle – auch ethno- psychoanalytische Einflüsse erhielt. Zunächst wurde – ebenfalls in der Tradition der kritischen Theorie – auf dem Hintergrund des Entfremdungsmodells argumentiert und es wurde versucht, die antagonistischen Widersprüche in der kapitalistischen Gesellschaft zu analysieren. Danach wurde diese materialistische Alltagsforschung an die Ent- wicklung des Faches rückgebunden und führte zu einer verstärkten Erforschung von Gruppenkulturen. Dies zeigte sich unter anderem an der Arbeiterkulturforschung und an einer schichtendifferen- zierenden Gemeindeforschung

103 Einführung in die Europäische Ethnologie – Alltag
In Tübingen wurde die historische Dimension des Alltagskonzepts viel stärker betont als etwa in Frankfurt. Der alltagsweltliche Zugang ist deshalb attraktiv, weil er sich den Ak- teuren zuwendet. Aufgegriffen wurde er auch in den Geschichtswis- senschaften, die über die traditionelle Struktur- und Herrschaftsge- schichte hinaus zu den historischen Subjekten vordringen wollte. Daraus resultierte, so könnte man im weitesten Sinn sagen, eine ver- änderte Wahrnehmung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Man be- gann unter dem Signum der Alltagsforschung, sich mit dem „Blick von unten“ zu beschäftigen. Das beinhaltete auch eine dichotome Vorstellung von Kultur und Gesellschaft mit einem klar abgegrenzten Unten und Oben. Geprägt waren diese Formen der Alltagsforschung zunächst von der kritischen Theorie und von einem Klassenkonzept, das von kul- tureller Hegemonie und kulturindustrieller Manipulation ausging. In der Arbeiterkulturforschung setzte sich dann das leninistische Zweikulturenmodell von unterdrückter und unterdrückender Klasse durch, das allerdings modifiziert wurde durch Einflüsse von Edward P. Thompson, der die Aneignungs- und Widerstandsformen der Arbeiterklasse betonte.

104 Einführung in die Europäische Ethnologie – Alltag
Aus dem Umfeld einer Alltagsgeschichtsforschung entwickelten sich einige viel diskutierte Ansätze. Vor allem aus der Beschäftigung mit den unteren Schichten vor der Industrialisierung, also in der Frühen Neuzeit, entstanden Konzepte, die danach fragten, wie Verhaltens- muster und Mentalitäten über einen längeren Zeitraum hinweg tradiert werden. So entwickelte sich etwa das Konzept des „Eigensinns“ der unteren Schichten. Dieser Eigensinn schreibt der Arbeiter- und Volkskultur eine inhärente Widerständigkeit gegen die herrschende Kultur zu, eine sich im Alltag formierende und formulierende Differenz, ein kollektives „Wir-Bewußtsein“. Für diese Ausrichtung stehen etwa die Arbeiten des Historikers Alf Lüdtke, aber auch der Volkskundler und Europäische Ethnologe Wolfgang Kaschuba argumentierte in diese Richtung.


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