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Ernst Jandl Dozentur für Poetik Szenen aus dem wirklichen Leben?

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Präsentation zum Thema: "Ernst Jandl Dozentur für Poetik Szenen aus dem wirklichen Leben?"—  Präsentation transkript:

1 Ernst Jandl Dozentur für Poetik Szenen aus dem wirklichen Leben?
Literatur als Medium für Gedächtnisbildung und Reflexion Brigitte Kronauer: Der unvermeidliche Gang der Dinge Frau Mühlenbeck im Gehäus

2 Persönliche Erinnerung als Narration?
In sehr vielen Disziplinen (Philosophie, Psychologie, Theologie, Anthropologie, Literaturwissenschaft etc.) besteht Übereinkunft, dass Menschen üblicher-weise ihr Leben als eine Narration oder eine Erzählung betrachten, ja mehr noch: dass sie ihr Leben auch entlang von solchen Geschichten ‚leben‘ und ‚erleben‘.

3 Persönliche Erinnerung als Narration?
Diachronische Selbsterfahrung beinhaltet, dass jemand sich als ein konsistentes Selbst versteht, das in der Vergangenheit da war und in der Zukunft da sein wird. Im Gegensatz dazu beinhaltet episodische Selbsterfahrung der so genannten Episodiker, dass sich jemand nicht als ein konsistentes Selbst versteht, das in der Vergangenheit da war und in der Zukunft da sein wird. Diachroniker tendieren dazu, ihr Leben als Erzählung zu sehen, Episodiker nicht.

4 Persönliche Erinnerung als Narration?
„Form-Findungs-Tendenz“ bezeichnet die Suche nach größeren Zusammen-hängen innerhalb eines Lebensentwurfs, das Suchen nach Kohärenz, Einheit und nach bestimmten Mustern. Man könne Diachroniker sein, ohne notwendigerweise Form-Finder zu sein, auch ein Episodiker könne nach einer Form suchen.

5 Persönliche Erinnerung als Narration?
„Geschichten-Erzähl-Tendenz“: Darunter versteht man, dass Personen beim Entwerfen ihres Lebens sich dieses als eines vorstellen, das in das Muster von anerkannten Erzählgattungen passt – so wie halbwegs begabte JournalistInnen, HistorikerInnen oder Trivial-SchriftstellerInnen eine Folge von Ereignissen erzählen würden: nicht nur in einer zeitlichen Abfolge, sondern auch als miteinander kausal verbunden und kohärent.

6 Persönliche Erinnerung als Narration?
Revisionismus bezeichnet die Tendenz, den eigenen Lebensentwurf nach bestimmten, zumeist nicht-bewussten Motivationen zu verändern – gleichsam, die eigene Lebensgeschichte umzuschreiben.

7 Persönliche Erinnerung als Narration?
Aus diesen genannten Ansätzen (Falsche Erinnerungen, Konfabulation, und die Gegen-Narrativitäts-These) folgt, dass der Entwurf eines Selbst nach Mustern der Narration und der geordneten Geschichte von einem ‚echten‘, ‚authentischen‘ Selbstverstehen weg führt, damit auch weg von einer angemessenen Möglichkeit, die eigene Existenz zu erfassen.

8 Brigitte Kronauer: "Der unvermeidliche Gang der Dinge" "Frau Mühlenbeck im Gehäus"

9 Kronauer: Der unvermeidliche Gang der Dinge
„Das, was wir erleben, sind keine Geschichten, die ReaIität ist anders. Ohne Zweifel! Das, was sich die Leute im Bus erzählen, hat Anfang und Ende, Höhepunkt und Pointe, das, was wir automatisch tun, wenn uns etwas zustößt, ist das Herausputzen der Details zu Symptomen, das Herstellen einer Geschichte. Was dabei entsteht, ist nicht die Realität. Ohne Zweifel! Dieses Zurechtlegen jedoch auf Sinn, Zusammenhang, Hierarchie der Fakten hin ist eine Realität, zweifellos!“

10 Kronauer: Der unvermeidliche Gang der Dinge
Wir hätten es hier also (auf äußerst unsicherem philosophischem Terrain) mit 2 unterschied-lichen "Realitäten" zu tun: der Realität, wie sie uns als unsere Alltagswirklichkeit umgibt (Realität 1, eine äußere Realität könnte man vielleicht auch sagen) VERSUS das Zurechtlegen der Fakten nach Mustern der Erzählung – auch dieses Zurechtlegen sei eine Realität (geschuldet vielleicht den realen psychischen Vorgängen, unserer inneren Natur gleichsam) – Realität 2: die Realität der Repräsentation, unseres Welt-Erfassens also.

11 Kronauer: Der unvermeidliche Gang der Dinge
"So gesehen beziehen sich die vorliegenden Texte auf Wirklichkeit, auf deren Handhabung, und das wiederum ist nichts oder beinahe nichts anderes als die Handhabung der tradierten, schlüssigen, uns in Fleisch und Blut übergegangenen Formen ihrer Interpretation. Die Texte sind nicht im mindesten psychologisch, aber sie gehen von der obengenannten Beobachtung aus."

12 Kronauer: Der unvermeidliche Gang der Dinge
Es geht Kronauer wohl, wenn ich sie richtig verstehe, nicht um psychologische Erklärungen des Verhaltens, vielleicht gar tiefen-psychologische (wie z.B. der psychologische Roman des 19. Jahrhunderts eine Psychologie der Handlungen, Motivationen, Emotionen etc. darstellen und modellieren hat wollen), sondern um eine Art literarischer Forschung an den realen Verhältnissen, wie Menschen ihr Leben konzeptualisieren: durch die Form der litera-rischen Gestaltung ausgedrückt und auch thematisch kommentiert.

13 Kronauer: Der unvermeidliche Gang der Dinge
"Sie [die Texte] versuchen, durch die Penetranz einer immer wieder durchgespielten, über die wechselnden Inhalte gestülpten Form die Machbarkeit von Realität zu demonstrieren. Ununterbrochen wird von der Ichperson vor aller Augen die Geschichte auf einen Sinn hin konstruiert, vor aller Augen wird die Wirklichkeit durch den Geschichtenwolf gedreht."

14 Kronauer: Der unvermeidliche Gang der Dinge
"Der Deutlichkeit halber sind deshalb die Abläufe nicht spektakulär, die Gefühle ohne Nuancierung, und das Wiedererkennen von Details (“das stimmt: Das habe ich auch schon erlebt”) beweist nur, daß der Leser in die Falle gegangen ist: Was er für die Realität halt, ist die von neuem vollzogene befriedigende Identifikation mit einer von uns lange verinnerlichten, tradierten Sehweise. Der Terror der Realität ist ja ein zweifacher: Die chaotische Vielfalt der Wirklichkeit und das Gegensätzliche: Die Hartnäckigkeit einer einzigen Sicht, die sich für die Realität ausgibt und deren Diktatur, man könnte es ‘Diktatur der Literatur’ nennen, um so größere Chancen hat, je weniger sich jemand mit Literarischem beschäftigt."

15 Kronauer: Der unvermeidliche Gang der Dinge
"In den Strophen eines Gedichts wird dies exemplarisch sinnfällig gemacht: Nicht nur die Illusion eines festen Ablaufs, sondern auch die der Vergleichbarkeit von Abläufen. Wer lediglich eine Strophe kennt, hält diese fixierende Interpretation und Anordnung von Wirklichkeit für die tatsächliche wer das ganze Gedicht liest, wird mißtrauisch. Wir haben eine natürliche Affinität zu den Ordnungsweisen der Geschichten, natürlich, wie unser Bedürfnis nach Sinn, Perspektive, Ziel."

16 Kronauer: Der unvermeidliche Gang der Dinge
"Es kommt nur darauf an, daß wir es sind, die diese Ordnungsmuster handhaben. Immer dies ist die Frage: Kriegen wir die Geschichten (Raster, Klischees, SchIußfolgerungen) in den Griff oder sie uns! B. K."

17 Kronauer: Der unvermeidliche Gang der Dinge
Selbst-Verstehen muss keine historische oder narrative Form annehmen, doch es nimmt, im Falle dieser frühen Prosa Brigitte Kronauers, notwendigerweise eine literarische Form an, die bestimmten Mustern folgt. Statt einer auf Faktizität und Überprüfbarkeit abzielenden Lebensbeschreibung sind diese Texte poetische Ausformulierungen eines Umgangs der Erzählenden mit dem eigenen, gegenwärtigen und vergangenen Erleben und der Möglichkeit, sich dessen in Literatur zu erinnern.

18 Kronauer: Der unvermeidliche Gang der Dinge
Im Licht der präsentierten kognitions-psychologischen Erkenntnisse nähern sich die Kronauer’schen Prosatexte insgesamt (auch, wie wir sehen werden, die späteren) dem Phänomen des Selbst, seinem (Körper-)Erleben und dessen Vermittlung in fragmentierter, episodischer Form, der es nicht um gattungs-konformes Erzählen einer Geschichte geht, sondern um Formfindung nach den Einsichten poetischer Expertise – mit und gegen die literarhistorische Konvention, was eine Narration (oder gar ein Narrativ) sei oder sein solle.

19 Kronauer: Der unvermeidliche Gang der Dinge
"Die Geschichte meines Lebens! Ich habe den dicken bunten Kopf, unter den es gedruckt ist, erkannt und sage, da dieser Kopf seine Geschichte ruhig erfinden kann, aber nur für sich selbst, ich sage zu ihm hin, er solle sie für sich behalten."

20 Kronauer: Der unvermeidliche Gang der Dinge
Der Begriff der Assoziation als ein durchaus positiv besetzter taucht in der heute geläufigen Bedeutung erstmals in den Schriften John Lockes und David Humes im späten 17. bzw. dann im 18. Jahrhundert auf und meint die unwillkürliche, spontane Aufeinanderfolge bzw. gedankliche Verknüpfung verschiedener Begriffe, Denk- und Bewusstseinsinhalte.

21 Kronauer: Der unvermeidliche Gang der Dinge
John Locke unterscheidet zwischen „simple ideas“, also einfachen Vorstellungen, die aus einzelnen Sinneswahrnehmungen herrühren, und „complex ideas“, die aus der Abstraktion und Kombination dieser „simple ideas“ gebildet werden. Dieses Aufheben der einfachen Vorstellungen in zusammengesetzten, verknüpften schreibt Locke der eigenständigen Arbeit des Geistes zu, wodurch eine Ordnung der Vorstellungen entsteht, die sich von der natürlichen Ordnung der Dinge unterscheidet und sich doch an ihr bemisst.

22 Kronauer: Der unvermeidliche Gang der Dinge
Diese Auffassung scheint mir auch für die Kronauer’sche Prosa von außerordentlicher Bedeutung: dass sich das im Geist der Schreibenden Formierte, das letztlich in den literarischen Texten seine überindividuell wahrnehmbare Gestalt findet, zugleich von der realen Ordnung der Dinge unterscheidet und mit ihr etwas gemeinsam hat, da es sich an ihr bemisst.

23 Kronauer: Der unvermeidliche Gang der Dinge
Alles dies hängt an den Gesetzen der Association. Die sog[enanntenl willkührlichen Zeichen dürften am Ende nicht so willk[ührlich] seyn, als sie scheinen – sondern dennoch in einem gewissen Realnexus mit dem Bezeichneten stehn. (Novalis 1798/99)

24 „Unfreiwillige Erinnerungen“
Kognitionswissenschaft geht von unfreiwilligen Erinnerungen aus, die einem in den Sinn kommen, ohne einen vorangegangenen intentionalen Versuch, sie abzurufen („freiwillig“ und „unfreiwillig“ hier verstanden als das subjektive Erleben, sich freiwillig respektive unfreiwillig zu erinnern).

25 „Unfreiwillige Erinnerungen“
Der Unterschied zwischen freiwilligen und unfreiwilligen Erinnerungen wird so gefasst: Freiwillige Erinnerungen sind Top-down-Prozesse, die schemageleitet sind, während unfreiwillige Erinnerungen auf assoziativen Mechanismen (auf Kontiguität) beruhen.

26 „Unfreiwillige Erinnerungen“
Hauptfrage: Wie kann der menschliche Geist ohne externe Stimulation aktiv sein und wie kommt es, dass die Ergebnisse dieser spontanen mentalen Aktivität von einem Selbst als bedeutsam und bedeutend empfunden werden? Persönliche Erinnerungen werden häufig von dem ‚Gefühl‘, die Ereignisse erneut zu durchleben, begleitet.

27 „Unfreiwillige Erinnerungen“
Gegen die auch psychologisch zweifelhaften Möglichkeiten der klassischen narrativen Autobiographie, etwas Verlässliches über unser Selbst, über unser Erleben in symbolischer Form vorlegen zu können, setzt Brigitte Kronauer die Authentizität auch schon ihrer frühesten Prosawerke.

28 „Unfreiwillige Erinnerungen“
Kronauers Prosabücher teilen etwas von den Affekten, den Leidenschaften, den Lebensumständen auf eine Weise mit, die jeder LeserIn dieser Werke sich erschließt. Man kann nicht anders, als die in der Kronauer’schen Prosa ausgedrückten Leidenschaften der Seele bei der Lektüre auch selbst zu erfahren: Und das, so scheint mir, ist viel.

29 Introspektion Zuschreiben von mentalen Zuständen an einen selbst und an andere – Kronauers "Sechs Gefühle in drei Schritten bei zu verschiedenem Zeitpunkt erfolgter Benennung".

30 Introspektion Diese Serie von Texten führt zentral die Frage vor, wie das Zuschreiben von mentalen Zuständen (also: glauben, fühlen, wünschen, hoffen) an einen selbst bzw. an andere sich ähnelt oder aber verschieden voneinander ist. Dazu gibt das Text-Ich häufig introspektive Berichte ab, die zeigen sollen, wie man sich über die eigenen Zustände Gewissheit verschafft.

31 Introspektion Unter Introspektion versteht man üblicherweise den direkten Zugang zu den eigenen bewussten Erfahrungen und unter introspektivem Bericht die Beschreibung dieser Erfahrungen: In der Philosophie des Geistes steht auf dem Spiel, ob ein solcher direkter Zugang tatsächlich möglich ist und sich von dem Zugang unterscheidet, den wir zu den Erfahrungen anderer haben. (Vgl. Marcel 2003)

32 Kritik an Introspektion
a) 1. PZ und 3. PZ sind zwei ganz unterschiedliche Fähigkeiten, realisiert in unterschiedlichen kognitiven Mechanismen b) 1. PZ ist der 3. PZ vorgängig, die Zuschreibung mentaler Zustände an andere beruht auf unserer Fähigkeit, uns selbst mentale Zustände zuzuschreiben, was mittels eines introspektiven Zugangs zu diesen zu bewerkstelligen ist c) als Umkehrung von b): die 1. PZ ist das Resultat davon, dass wir unsere Fähigkeiten, 3. PZ vorzunehmen, auf uns selbst anwenden.

33 Kritik an Introspektion
Die Verteidigung dieses Ansatzes b) von Introspektion wird von Philosophen zumeist dadurch vorgenommen, dass sie einen Pappkameraden als Gegner errichten und diesem Unplausibilität unterstellen, nämlich: dass Gegner von Introspektion annähmen, die Selbstzu-schreibung von Urteilen und Entscheidun-gen erfolge ausschließlich auf der Basis von Beobachtungen des eigenen Verhal-tens in bestimmten Umständen.

34 Kritik an Introspektion
"That people use something like introspection can be made compelling by considering the implausibility of alternatives. I believe that I currently intend to walk into my study and remove a particular book from the shelf. What leads me to think that I have this intention? From what evidence could it be inferred – current behavior? past behavior?

35 Kritik an Introspektion
So far I have taken no step toward the study, so current behavior provides no clue. Nor do I have any past track record of taking that particular book off the shelf, so past behavior is no help either. The obvious explanation is that my intention-belief is obtained directly rather than inferentially." (Goldman 2007)

36 Kritik an Introspektion
Besonders interessieren in unserem Zusammenhang Carruthers' Überlegungen zur Rolle, die Mindreading bei der Interpretation von Rede über mentale Zustände, v.a. über die mentalen Zustände des Sprechers spielt. Carruthers zufolge sind alle solche verbalen Berichte eines Sprechers von Vorgängen, die propositionale Einstellungen betreffen, die Ergebnisse einer unbewussten Form von Selbstinterpretation (also nicht: Introspektion), die mit Hilfe der Mindreading-Fähigkeit des Sprechers ausgeführt werden. (Carruthers 2010)

37 was wenn ich von mir reden wollte könnte ich von mir sagen das nicht unkorrekt ungenau ausgedacht wäre wer ist es denn dem ich am nächsten stehe und von dem ich am wenigsten weiß selbst wenn ich es gewohnt bin von mir zu reden oder zumindest aus dem heraus zu reden was ich als das vermute was ich bin als Schriftsteller der sich selber zum Stoff hat doch in diesem Sich-selber-zum-Stoff-Haben vor allem das problematische Verhältnis zum Wort ich sieht

38 Ich kenne mich, von außen jedenfalls, besser als irgendeinen anderen Menschen, andererseits habe ich, wie ich anhand von Fotos feststellen kann, keine Vorstellung davon, wie ich aussehe, und an meine Stimme, wenn sie mir aus dem Lautsprecher entgegenkommt, muß ich mich stets von neuem erst gewöhnen.

39 Frage: Man sagt doch manchmal, wenn man sich über was nicht klar ist: da habe ich mich wirklich gefragt. ob usw. Meint man das eigentlich ernst? Fragt man sich da wirklich? Und wenn man sich fragt, was will man denn eigentlich von sich selbst wissen? Antwort: Gar nichts. Mit Wissenwollen hat das nichts zu tun. Du bist dir uneins, und weil du dir uneins bist, erfindest du jemand, den du fragen kannst, mich. Frage: Eigentlich gibt es dich also nicht? Antwort: Doch, doch. Es gibt mich, weil du mich erfindest. Frage: Aber was ich erfinde, ist doch etwas, was ich erst mache. Du bist sozusagen ein Produkt von mir oder von meiner Phantasie? Antwort: So einfach ist es, fürchte ich, nicht. Denn wenn du sonst was erfindest oder machst, tust du es unter der Voraussetzung, daß du es auch sein lassen kannst. In allen solchen Unternehmungen bewahrst du dir, was das auch bedeuten mag, die Illusion des freien Willens. Ich aber bin sozusagen eine Zwangsangelegenheit von dir.

40 Ich habe Sätze gesammelt, die unmittelbar mich betreffen
Ich habe Sätze gesammelt, die unmittelbar mich betreffen. Aber indem ich versucht habe, sie zu formulieren, wurde ich gewahr, daß sie sich in eine Art von Sprachmaterial verwandelten, in dem ich mich als Schreibender hin und her bewegen konnte. Die Sätze, die auf mein eigenes Erleben, meine eigene Erfahrung gerichtet waren, stauten sich, sie bildeten so etwas wie kleine sprachliche Stauseen vor einem unbekannten Hindernis, einer unbekannten Sperre. Um diese Sperren zu überwinden, brauchte ich andere Sätze, Satzbruchstücke, Wörter, Zitate. Diese bezogen sich auf Landschaftliches, auf Allgemeines, auf Gelesenes, auf Gehörtes, jedenfalls auf etwas, was außerhalb von mir war.

41 Ich versuche, etwas von mir zu erkennen
Ich versuche, etwas von mir zu erkennen. ich versuche das, was ich erkannt zu haben glaube, in Sätze zu verwandeln, oder vielmehr die Sätze, die ich finde, sind die Form und der Inhalt dieser Erkenntnis. Aber indem ich diesen Versuch unternehme, wird es mir zugleich zu etwas Fremdem. Und auch dieses Fremdwerden gehört zur versuchten Einsicht.

42 Das Sagbare ist das zu Sagende.
kommt von dem objektivierten Gedächtnis aus Sprache. ich dringe, redend, darin ein. Eindringend setze ich neu Welt aus dem Material des objektivierten Gedächtnisses zusammen. Gesprochenes rekapitulierend und zusammensetzend, erfinde ich die zweite Welt aus Sprache. Ich verdoppele, ich vervielfache, was ich benennen kann.

43 Brigitte Kronauer scheint in ihren frühen (wie sie selbst schreibt) "programma-tischen Anfängen" dieses Verhältnis von Selbst- und Fremdzuschreibung von mentalen Zuständen literarisch umkreist zu haben. Diese frühen Texte wirken wie eine Propädeutik zu ihren späteren, stellen sie doch Theorie noch sehr offen zur Schau: vielleicht mit dem Ziel, literarische Forschung an philosophischen Fragen zu betreiben.

44 Thematisierung der Selbstzuschreibung von mentalen Zuständen durch Beobachtung von Verhalten und äußeren Merkmalen (Mimik) (so wie man mentale Zustände einer der präsentierten Theorien zufolge auch anderen zuschreiben würde) – dass wir zu unseren eigenen mentalen Zuständen kaum privilegierten Zugang haben – dass wir also uns selbst beobachten und auf der Basis der Beobachtungen unseres Verhaltens auf unsere mentalen Zuständen schlössen (Perspektive c).

45 "Ich stieß mit dem Kopf gegen die Tür, aber nur ein Mal, ich biß in meine Hand, ich biß ziemlich fest, aber es machte mir nichts aus. Vor dem Spiegel bemerkte ich meine Blässe und meine herabgezogenen Mundwinkel, ich machte ja ein Gesicht, wie kurz vor dem Weinen, kaum begriff ich das, da begannen sich die Augen zu röten und wässrig zu werden, ich brach in Tränen aus, ich schluchzte, ich hob und senkte die Schultern, ich putzte mir die Nase und bald war auch das Taschentuch ganz naß, so daß ich den Handrücken nahm, um die Tränen abzuwischen, ich seufzte und zitterte ein bißchen.

46 Anschließend nannte ich meinen Gesichtsausdruck vor dem Spiegel: ruhig, ernst, auch: gefaßt. Ich sah diesen Ausdruck und sagte mir also, daß dies das GefühI angesichts eines Todesfalls sei, nämlich Trübsinn, Niedergeschlagenheit, Kummer, Trostlosigkeit, ja, dies war also noch zutreffender: Trauer, ich war traurig, ich trauerte, ja, natürlich. Und als ich in den Flur trat, taten es die Menschen, die sich dort aufhielten, auch, wie ich sogleich an ihrem Benehmen erkannte."

47 Dieser alternative Sicht zufolge hätten wir privilegierten Zugang zu unseren eigenen mentalen Zuständen: wir schlössen auf der Basis dieser erlebten, introspizierbaren und uns selbst zuschreibbaren mentalen Zustände auf die Zustände anderer (Perspektive b); diese Auffassung scheint der theoretische Hintergrund der folgenden Passage zu sein.

48 Frau Mühlenbeck im Gehäus (1980)

49 "Wie eine einmal, ein für allemal festgelegte Autobiographie zur gewissermaßen ideologischen Wahrnehmung auf Maximen und Lebensweisheiten mancher Art hin, zu einem stabilen, schützenden und unentrinnbaren Gehäuse wird — oder eben zu einem Zierobstbaum, an dem die restlichen Lebensfrüchte wachsen —‚ habe ich in meinem ersten Roman von 1980: »Frau Mühlenbeck im Gehäus«, darzustellen versucht.

50 In einer demonstrativen Konstruktion sind hier zwei Ich-Erzählerinnen gegenüberpostiert: die ihr Leben vor, nach und zwischen den Weltkriegen vorführende Frau Mühlenbeck und eine junge Untermieterin, die, zunächst noch in ihren Empfindungen und Beurteilungen »urwaldhaft« verworren, bei der viel älteren Frau Mühlenbeck in die Lehre geht, durch Zuhören — ein Vorgang der Domestikation in diesem Fall — in deren Sog gerät und ihre Ordnungsmuster übernimmt, auch ihre Anekdotenbildung, und am Ende erste Anzeichen von Lebenstüchtigkeit, wie man das nennt, allerdings auch von Erstarrung aufweist, wohltätige, aber auch zur Verarmung des Potentiellen führende Eindeutigkeit.

51 Mit Frau Mühlenbeck hatte ich, allen Bedenken der Moderne zum Trotz und doch ohne rückfällig zu werden, eine Form gefunden, klassische Geschichten, beinahe Kalendergeschichten schon, zu erzählen. Auch hier kam es mir darauf an zu zeigen, wie eng Leben und Literatur, wenn man diese etwas großzügig als Herstellen von Reihenfolgen, Netzen, Systemen, auch natürlich von Lebenssinn, Nicht-Zufälligkeit begreift, ineinander verzahnt sind."

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